Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

Schwarze Schrift auf weißem Hintergrund: "Abendlandes", darunter ein grüner Streifen quer durchs Bild. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Zusammen mit Otto Weininger bildet Oswald Spengler die Speerspitze jener rechtskonservativen und antidemokratischen Bewegung, die im deutschen Sprachraum in den ersten rund 30 Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden und als ‚Wissenschaft‘ oder ‚Philosophie‘ zu Weltruhm gelangt sind. Ob es die beiden inhärente Skepsis gegenüber den Entwicklungen der Gegenwart war, die beide – Pessimisten, die sie waren – sehr negativ einstuften, die ihren Ruhm begründen half? Oder die Tatsache, dass beide Schuldige suchten, die außerhalb des gesellschaftlichen ‚Mainstreams‘ standen – bei Weininger die Juden und die Homosexuellen, bei Spengler ein dumpfes Schicksal, das jede Kultur zum Untergang verdammte? Oder einfach der Umstand, dass beide Zitate und Beispiele aus aller Herren Länder beibringen konnten, die ihre Ansichten zu bestätigen und ihnen den Anstrich wissenschaftlicher Relevanz verliehen? Es ist ja im Grunde genommen bei beiden so, dass Bildungsbürger am Werk sind, die das Bildungsbürgertum verachten und es mit den Mitteln eines Bildungsbürgers bekämpfen. Interessanterweise kann Spengler seinem Vortreter Weininger nur wenig abgewinnen, obwohl ein Vergleich der zitierten Werke und Autoren zeigt, dass sie sich beide in etwa auf dieselben Grundlagen stützen. Für Spengler sind das vor allem Goethe und Nietzsche, auch wenn er letzteren mehr kritisiert als zustimmend anführt. Bei Goethe wiederum ist es die Idee (die Goethe selber bekanntlich für eine Anschauung hielt!) der Morphologie der Pflanzen – einer über sämtliches Grünzeug immer identischen Entwicklung des einzelnen Lebewesens. Denn so wie Goethe bei den Pflanzen sah Spengler bei den (Hoch-)Kulturen eine morphologisches Naturgesetz am Werk.

Aus dem Blickwinkel einer modernen Geschichtswissenschaft ist das selbstverständlich Humbug, umso mehr als Spengler jeder Kultur gerade mal eine Lebensspanne von 1‘000 Jahren zugesteht. Nur schon diese runde Zahl müsste einen misstrauisch stimmen.

Dabei ist einer der Ausgangspunkte dieses Riesenwerks (rund 1‘250 Seiten in meiner Ausgabe), wie ihn Spengler ganz am Anfang skizziert, durchaus des Nachdenkens und Beachtens wert. Einer der Gründe, warum er dieses Buch geschrieben habe, sei nämlich die Tatsache, dass die europäische Geschichtsschreibung bis jetzt die Entwicklungen von und in anderen Kulturen kaum zur Kenntnis genommen habe. Dieser Eurozentrismus in der Geschichtswissenschaft existiert ja heute noch, sonst hätte Tamim Ansary in seinem Buch Die unbekannte Mitte der Welt nicht ein Plädoyer dafür halten müssen, dass doch in der europäischen Geschichtsschreibung auch der Blickwinkel des Islam, der arabisch-persischen Kulturen berücksichtigt werden solle. (Wobei sich der Titel des Buchs dann natürlich auch darauf bezieht, dass die islamische Geschichtsschreibung ihrerseits mutatis mutandis ‚eurozentristisch‘ schreibt.)

Doch den schönen Worten folgen bei Spengler leider keine schönen Taten. Zum einen, weil praktisch jedes seiner Kapitel anfängt mit einer Beschreibung der Situation in der aktuellen (dem Untergang geweihten) europäischen Hochkultur. Mehr in kurz hingeworfenen Blitzlichtern als in ausführlichen Schilderungen folgen dann andere Hochkulturen (die chinesische, die ägyptische, die indische, die antike griechische oder die arabische, um die wichtigsten Beispiele zu nennen). Aber es hilft nichts, bei einem Ausdruck wie “Barock“ in China die der europäischen Geschichtsschreibung entlehnte Epochenbezeichnung in Anführungszeichen zu setzen – das macht die Zuschreibung nicht weniger irreführend. Hinzu kommt, dass Spengler offenbar sehr, sehr wenig über die süd- und mittelamerikanischen Hochkulturen weiß, Azteken, Tolteken, Inka und Maya kaum erwähnt oft miteinander vermischt, und last but not least über afrikanische Kulturen jenseits des Mittelmeers kein einziges Wort verliert. Er steht damit zwar in Einklang mit dem (deutschen) Forschungsstand der Zeit, er hätte aber zumindest ansprechen können, dass man nichts wisse. (Während wir heute immerhin wissen, dass auch in Zentralafrika Hochkulturen und große Reiche existierten.)

Einen expliziten Rassismus allerdings, in dem Sinne, dass er zum Beispiel die Indigenen Afrikas als ‚minderwertig‘ bezeichnen würde, finden wir bei Spengler nicht. Wir finden aber des öfteren das Lob auf die Rasse, worunter er offenbar so etwas Ähnliches versteht wie der englische Snob, der sich in Aston über Pferde auslässt. Der englische ‚Gentleman‘ wiederum ist eindeutig Spenglers Idealbild der Rasse. Sein großer Heros aber, den er immer mal wieder schwärmerisch nennt, ist – Cecil Rhodes. Mehr brauchen wir zu diesem Thema wohl nicht zu sagen.

Das Buch hat keinen wissenschaftlichen oder philosophischen Wert – hatte es nie. Einzig zum Amüsement, aber auch zur Warnung, kann es noch gelesen werden. Amüsement, wenn man damit leben kann, dass die einzelnen Kapitel recht unordentlich daher kommen, Spengler des öfteren kaum ein paar Wort verliert zu dem Thema, das die Kapitelüberschrift zu behandeln versprochen hatte. Und Warnung, denn, wenn wir Zeilen lesen wie diese:

Ich sage es voraus: Noch in diesem Jahrhundert, dem des wissenschaftlich-kritischen Alexandrinismus, der großen Ernten, der endgültigen Fassungen, wird ein neuer Zug von Innerlichkeit den Willen zum Siege der Wissenschaft überwinden. Die exakte Wissenschaft geht der Selbstvernichtung durch Verfeinerung ihrer Fragestellungen und Methoden entgegen. Man hatte zuerst ihre Mittel geprüft – im 18. Jahrhundert, dann ihre Macht – im 19.; man durchschaut endlich ihre geschichtliche Rolle. Von der Skepsis aber führt ein Weg zur »zweiten Religiosität«,55 die nicht vor, sondern nach einer Kultur kommt. Man verzichtet auf Beweise; man will glauben, nicht zergliedern. Die kritische Forschung hört auf, ein geistiges Ideal zu sein. Der Einzelne leistet Verzicht, indem er die Bücher weglegt. Eine Kultur verzichtet, indem sie aufhört, sich in hohen wissenschaftlichen Intelligenzen zu offenbaren; aber Wissenschaft existiert nur im lebendigen Denken großer Gelehrtengenerationen, und Bücher sind nichts, wenn sie nicht in Menschen, die ihnen gewachsen sind, lebendig und wirksam werden. Wissenschaftliche Resultate sind lediglich Elemente einer geistigen Tradition. Der Tod einer Wissenschaft besteht darin, daß sie niemandem mehr Ereignis wird. Aber zweihundert Jahre Orgien der Wissenschaftlichkeit – dann hat man es satt. Nicht der Einzelne, die Seele der Kultur hat es satt. Sie drückt das aus, indem sie ihre Forscher, die sie in die geschichtliche Welt des Tages hinaufsendet, immer kleiner, enger, unfruchtbarer wählt. Das große Jahrhundert der antiken Wissenschaft war das dritte, nach dem Tode des Aristoteles. Als die Römer kamen, als Archimedes starb, war es fast schon zu Ende. Unser großes Jahrhundert ist das neunzehnte gewesen. Gelehrte im Stile von Gauß, Humboldt, Helmholtz waren schon um 1900 nicht mehr da; in der Physik wie in der / Chemie, der Biologie wie der Mathematik sind die großen Meister tot, und wir erleben heute das Decrescendo der glänzenden Nachzügler, die ordnen, sammeln und abschließen wie die Alexandriner der Römerzeit. [S. 548 f]

dann erinnert das nur allzu sehr an die Ideale der heutigen Ultra-Rechten, die mit einer Vermystifizierung angeblicher und echter Wissenschaft versuchen, die Grenzen zwischen Glaube und Wissenschaft zu verwischen und so die Stimmbürger:innen zu willenlosen, weil unwissenden Schafen zu transformieren.

Ja, man sollte Oswald Spengler heute noch lesen. Aber nicht blind, sondern wachen und sehenden Auges, mit einem kritischen Geist.


Meine Ausgabe:

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: C. H. Beck, 1980 [= Sonderausgabe in einem Band]

Es existiert, nebenbei gesagt, eine von ultrakonservativen Historikern und Ökonomen 2017 gegründete Oswald Spengler Society, deren Homepage zwar Stand Juni 2023 immer noch einen Call for Papers für eine internationale Konferenz im Oktober 2022 aufzeigt, die aber auch einen (von einem AfD-Mitglied (oder dieser Partei zumindest nahe stehenden Person) gesponserten) Oswald-Spengler-Preis verleiht, deren Preisträger 2018 ein gewisser Michel Houellebecq war. Sapienti sat.

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