John Wyndham: The Chrysalids / Re-Birth [Wem gehört die Erde?]

‚Chrysalide‘ oder auch ‚Chrysalis‘ ist der Fachbegriff für die Puppe gewisser Insekten. Mir ist der Zusammenhang des Titels, unter dem dieser Roman 1955 erschienen ist, mit der erzählten Geschichte nur ungefähr klar. Re-Birth (Wiedergeburt) – unter diesem Titel erschien das Werk in den USA – ist da auch nur die Version für Dummies und hilft nicht weiter. Im Grunde genommen wird im ganzen Roman nämlich niemand wiedergeboren oder ver- und entpuppt sich. (Ausser, man betrachte das merkwürdige Happy End als so ein Ereignis.) Eindeutiger ist der Zusammenhang zwischen Titel und Story im Deutschen.

Denn es geht um Macht in dieser Geschichte, um Deutungshoheit in Bezug auf das Leben, auf die Erde. Wir befinden uns in Labrador, in einer Zeit nach einer Katastrophe und sehen dem Erwachsenwerden des Ich-Erzählers, David Strorm, zu. David wächst in einer Kolonie strengstgläubiger Christen auf, die alles nach der Bibel regeln und nach einem post-apokalyptischen Auslegungstext derselben, der z.B. den Satz „Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild“ explizit dahingehend auslegt, dass das Vor-Bild nur einen Kopf hatte, zwei Arme und Beine, fünf Zehen und Finger etc. Mutationen sind nämlich seit der Apokalypse, und auch noch zu Davids Zeiten, an der Tagesordnung, unter Pflanzen ebenso wie unter Tieren und unter Menschen. Dies legt nahe, dass die Apokalypse eine atomare Katastrophe oder ein Atom-Krieg gewesen sein muss. Auch die Erzählungen von Davids Onkel Axel, der als Matrose weit herumgekommen ist, scheinen dies zu bestätigen, berichtet er doch von einem Land mit völlig verbrannter Erde, schwarzem, glashartem Boden und Krankheitssymptomen unter den Matrosen, die denen der Strahlenkrankheit sehr ähnlich sind.

Die puritanische Kolonie versucht dieser Abweichungen Herr zu werden, indem mutierte Pflanzen verbrannt, mutiertes Vieh getötet und menschliche Mutationen in die sog. Randzone verbannt werden – ein Gebiet zwischen dem fruchtbaren Landstrich Labradors und der verbrannten Erde weiter südlich. Denn – auch das wohl eine Folge der Katastrophe – Labrador zu Davids Zeiten ist bedeutend wärmer als Labrador in den 50ern.

Schon der etwa 10-jährige David findet auf seinen Streifzügen ein gleichaltriges Mädchen, Sophie, die sich zusammen mit ihren Eltern vor der Kolonie versteckt. Die Familie versteckt sich, weil die Kleine sechs Zehen aufweist. David selber wird sich zusehends dessen bewusst, dass auch er eine Mutation darstellt. Er ist nämlich in der Lage, sich mit gleichermassen Mutierten telepathisch zu unterhalten. Von diesen Mutanten sind etwa zwei Handvoll vorhanden. Lange gelingt es ihnen, ihre Abweichung vor den ‚Normalen‘ zu verstecken. Dann – David ist mittlerweile rund 20 – werden zwei junge Frauen entdeckt und verraten unter der Folter ihn, seine Cousine und Geliebte Rosalind und seine jüngere Schwester Petra. Die drei fliehen und landen bei einer Gruppe randständiger Mutanten.

Petra ist die stärkste Telepathin der Gruppe. Tatsächlich kann sie gedanklich so laut ’schreien‘, dass sie nicht nur die andern fast zur Bewusstlosigkeit treibt, sie ist sogar in der Lage, die Bevölkerung von Neuseeland auf sich aufmerksam zu machen. An diesen Inseln ist die Katastrophe mehr oder weniger vorüber gegangen. So haben die Menschen dort nicht nur die prä-apokalyptische Technik bewahrt, sondern mittlerweile als Gruppe die Telepathie entdeckt und unter sich weiter entwickelt. Da das Natur-Talent Petra sie aber alle übertrifft, wird eine Rettungsexpedition ausgesandt. Es kommt, wie es kommen muss: David, Rosalind und Petra werden gerettet. Zwei weitere Telepathen, die noch verbleiben, können hingegen nicht gerettet werden – mangels Treibstoff, wie die Expeditionsleiterin erklärt.

Um ehrlich zu sein, irritiert mich das Buch. Der Plot, als solcher und für bare Münze genommen, ist zwar nicht uninteressant, aber, wie Damon Knight feststellte, Wyndham

„…failed to realize how good a thing he had. The sixth toe was immensely believable, and sufficient; but Wyndham has dragged in a telepathic mutation on top of it; has made David himself one of the nine child telepaths, and hauled the whole plot away from his carefully built background, into just one more damned chase with a rousing cliche at the end of it… this error is fatal.“ (In Search of Wonder. Chicago, 1967)

Der Verfasser des Vorworts zu meiner Ausgabe (Folio Society, 2010), Adam Roberts, hingegen schlägt eine kontrafaktische Lektüre vor, bei der die lange Rede der Expeditionsleiterin, die im Grunde genommen nichts als als einen gerade ein bisschen über der normalen Plattheit liegenden Sozial- und Rassendarwinismus predigt, zusammen mit der Tatsache, dass der Expedition offenbar nur an Petra liegt, Mutanten wie reinrassige Puritaner ohne Gnade getötet werden, um an Petra heran zu kommen, selbst der Rest der Telepathen gerade mal in Kauf genommen wird, als Hinweis darauf gilt, dass im Grunde genommen die Einstellung der ‚Hochzivilisierten‘ um keinen Deut besser ist, als die der ‚barbarischen‘ Kultur, aus der die Helden des Romans gerade entflohen sind. Wenn ich dem Roman einen Wert zugestehen will, muss ich diese Interpretation annehmen, denn auf dem reinen Boden der Erzählung verschwindet das Interesse irgendwann in der Mitte des Romans, wo immer mehr die Verfolgung der Telepathen ins Zentrum rückt und die an und für sich faszinierende Beschreibung der primitiven Kultur, die bewusst an die puritanische Kultur und die daraus resutierenden Hexenverbrennungen im damaligen Grenzgebiet um Salem 1692 erinnert, wegfällt. Allerdings legt diese Interpretation dann auch nahe, dass wir hier kein wirkliches Happy End vor uns haben. Was wird mit den drei geretteten Barbaren in Neuseeland wirklich geschehen?

 

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