Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater

Teil des golden in braunen Karton geprägten Logos des Tempel-Verlags, bestehend aus den übereinander gestellten Fraktur-Buchstaben D, T und V, sowie ein paar Ornamenten. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Auch wenn im Text keine Namen erwähnt werden, ist es meiner Ansicht nach völlig klar, dass Kleists hier vorliegender Essay von 1810 eine Auseinandersetzung mit den ästhetischen bzw. kunsttheoretischen Ansichten des deutschen Idealismus darstellt, allen voran derjenigen Friedrich Schillers, wie er sie in Über Anmut und Würde dargelegt hatte, und deshalb indirekt auch mit der Immanuel Kants, die für Schiller seinerseits der Ansatzpunkt gewesen war.

Kleist blendet in diesem kurzen Aufsatz allerdings Schillers ethisch-pädagogische Schlussfolgerungen aus der Kunsttheorie ebenso aus wie die bei Kant zentralen erkenntnistheoretischen Aspekte. Kants Erkenntnistheorie hatte ja 1801 bei Kleist zu der so genannten „Kant-Krise“ geführt, da sie dem jungen Mann jedwede Sicherheit genommen hatte, eine wie immer geartete Realität erfassen zu können. Außerdem kaschiert Kleist den Charakter eines rein philosophisch-ästhetischen Essays ein wenig, indem er seine Argumente von zwei Personen gesprächsweise vortragen lässt. (Dieses Gespräch, nebenbei, findet statt, als der Ich-Erzähler den Winter 1801 in M… zubrachte – ob die Jahreszahl zufällig gewählt wurde?)

Im Gegensatz zu Schiller stellt Kleist die These auf, dass Anmut nicht die bewusst erreichte Stufe im Ästhetischen darstellt, während Schönheit deren natürliche Form sei. Kleist setzt Anmut und Schönheit in eines und spricht dann von Anmut oder Grazie. Und diese Anmut bzw. Grazie ist im Natürlichen zu finden.

Kleist exemplifiziert seine Kunsttheorie an drei Beispielen:

Das erste Beispiel wird vom Gesprächspartner des Ich-Erzählers beigebracht. Dieser Mann wird im Text nur Hr. C. genannt und ist seines Zeichens seit Kurzem als erster Tänzer der Oper in M… angestellt. Der Ich-Erzähler wundert sich, den ersten Tänzer so häufig in den Vorstellungen eines Marionettentheaters zu sehen. Das gibt C. die Gelegenheit, darzulegen, dass im Grunde genommen die Bewegungen der Marionetten, vor allem wenn sie tanzen, bedeutend anmutiger sind als die der meisten menschlichen Tänzer. Das liege daran, dass die Marionetten in ihren Tanz-Bewegungen im Grunde genommen einfach den Gesetzen der Schwerkraft folgten – kein Geist, nur Natur. (Es folgen hier denn auch einige mathematische Formeln, mit denen der Tänzer seine Theorie zu untermauern versucht.)

Das erinnert nun den Ich-Erzähler an einen ihm bekannten Jüngling: Ich sagte, daß ich gar wohl wüßte, welche Unordnungen, in der natürlichen Grazie des Menschen, das Bewußtsein anrichtet. Ein junger Mann von meiner Bekanntschaft hätte, durch eine bloße Bemerkung, gleichsam vor meinen Augen, seine Unschuld verloren, und das Paradies derselben, trotz aller ersinnlichen Bemühungen, nachher niemals wieder gefunden. Im Gegenteil: Der Bursche wurde durch seine Bemühungen zu einer komischen Figur – Komik als Diskrepanz zwischen Wollen und Können, Natürlichkeit und Künstlichkeit. So ganz nebenbei finden wir hier auch bei Kleist eine recht eigenwillige Konstruktion des Leib-Seele-Problems. Grazie, wie gesagt, ist für Kleist ein Synonym für Anmut. Grazie ist auch für den Menschen erreichbar, aber nur im Stand der Unschuld. Der Versuch, die anmutige Pose noch einmal einnehmen zu können, ist für den jungen Mann zum Scheitern verurteilt, weil er dies nun mit Bewusstsein versucht. Dass er allerdings nicht die Natur nachgeahmt hat sondern ein Kunstwerk wird von Kleist nonchalant übergangen. Man müsste daraus wohl schließen, dass es Menschen gibt, die die Natur in ihrer Kunst wieder zu erreichen vermögen. Aber hier wird es nachgerade mystisch; Kleist verfolgt diese Spur nicht, hat sie vielleicht nicht einmal bemerkt.

Den Schluss macht die Erzählung von jenem Bären, der das Fechten gelernt hatte – oder jedenfalls eine Form von Selbstverteidigung, die dem Fechten ähnelte. Selbst der beste menschliche Fechter hatte gegen ihn keine Chance. Der Bär war in der Lage, ernst gemeinte Hiebe abzuwehren. Finten aber durchschaute er von Anfang an und reagierte nicht einmal. Damit soll im Rahmen von Kleist Essay wohl bewiesen werden, dass eine Natur ohne menschlichen Bewusstseins-Überbau letztlich überlegen ist.

Der ganze Text ist sehr ‚essayistisch‘ angelegt, in dem Sinn nämlich, dass ein logisches Fortschreiten der Argumentation oder solide Schlüsse fehlen. Die Gesprächsform ist von Kleist sicherlich auch aus dem Grund gewählt worden, dass solches nicht erwartet wird in einem Gespräch von Zufallsbekanntschaften. Er hat sich jedenfalls nicht am platonischen Gespräch orientiert. Auch fällt auf, dass seine ästhetische Argumentation bei jedem Beispiel eine Kunst mit Körperlichkeit betrifft – sei es, dass mit Ballett und Bildhauerei die konkretesten, ‚körperlichsten‘ Kunstformen zum Exemplifizieren seiner Kunsttheorie genommen werden, sei es, dass mit der Fechtkunst eine eigentlich nur ableitend „Kunst“ genannte körperliche Betätigung hinzu gezogen wurde.

Ich will hier nur nebenbei darauf verweisen, wie Kleist durch Sprache und auch gewisse Beispiele nachgerade christliche, heilsgeschichtliche Implikationen ins Zentrum stellt – statt der aufklärerisch-ethischen wie Schiller. (Außerdem war der Verlust der Unschuld durch die Erkenntnis in gewissem Sinn damals, 1801, auch Kleists Schicksal.) Es gibt im Essay immer wieder Versuche, einen sich schließenden Ring zu postulieren – einen Übergang vom unbewussten Wesen (dem Tier, dem Kind) zum bewussten (dem Menschen) bis hin zu einem Wesen, das eigentlich als überbewußt betrachtet werden müsste, von Kleist aber in Bezug aufs Bewusstsein wieder mit dem Tier oder dem Kind verglichen wird: ein Gott (oder eben: ein Künstler). Aber letztlich bleibt Kleist gerade bei dieser dritten Stufe, der Göttlichkeit oder Gott-Ähnlichkeit des Künstlers, bzw. der Ähnlichkeit der dritten mit der ersten Stufe dann doch recht vage. Er will offensichtlich auf etwas zeigen, das er nicht ganz ausformulieren kann.


PS. Wir haben in unserem Blog – es ist ein paar Jahre her – einmal die Trilogie His Dark Materials von Philipp Pullman vorgestellt. (Man bemühe bitte die Suche oder das Inhaltsverzeichnis.) Pullman weist selber darauf hin, dass neben Milton gerade der vorliegende Essay Kleists es war, der ihm wichtige Anstöße gegeben hat, und wir haben damals denn auch darauf, wie der vorliegende Aufsatz Kleists auf gewisse Grundgesetze der Trilogie eingewirkt hat. Vor allem Myra, die Heldin, gleicht in vielem dem Jüngling im zweiten Beispiel Kleists, da auch sie mit zunehmendem Alter ihre Unschuld und damit ihr intuitives Können und Wissen verliert. Was wir damals nicht erwähnt hatten, ist ein Volk intelligenter und sprechender Eisbären. Diese Bären können im Faustkampf ebenso wenig besiegt werden wie Kleists Bär, denn sie sind in der Lage, bedeutend rascher zu analysieren, was der Gegner beabsichtigt und darauf zu reagieren.

Der Kunsttheoretiker und Ästhetiker Kleist wird also durchaus auch heute noch gelesen.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 7

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