Die Erfahrungen seiner Jugend waren offenbar prägend für seine Gottesvorstellungen: Erst durch die Nationalsozialisten auf sein Judentum aufmerksam gemacht fand er sich zu seinem Erstaunen als ein Mitglied jenes Volkes wieder, das für den Tod des Gottessohnes verantwortlich gemacht wurde. Sein ursprünglich stark verwurzelter Glaube verwandelte sich in Skepsis und einen seltsam metaphysischen Agnostizismus, von dem er in diesem Buch zu erzählen sich anschickt.
Es gibt wenige – auch nur einigermaßen vernünftige Sätze in diesem Essay. Als einer dieser seltenen sei jene im Jugendlichen reifende Erkenntnis zitiert, die ihm seine Abkehr von mythologischen Vorstellungen erleichterte: „Kein auch nur halbwegs vernunftbegabtes Kind kann an einen Gott als Schöpfer und Ursprung des Universums glauben, wenn es nicht in einem vollkommen undurchdringlichen familiären und religiösen System eingeschlossen ist. Nichts ist so grotesk und verjährt wie die Vorstellung von einem Uhrmacher-Gott, der im Marathon-Tempo die Welt montiert.“ Das ist zweifelsohne eine richtige – wenn auch nicht gerade bahnbrechende – intellektuelle Einsicht. Aber die tiefe Religiosität seiner Jugend scheint Folgen hinterlassen zu haben: Er liest Charles Péguy, Blaise Pascal, Dostojewski, später Foulcault oder Lévinas und bastelt aus all dem eine theologisch amutende Seinsmetaphysik, die jedem christlichen Apologeten zur Ehre gereicht hätte.
So fabuliert er sich etwa eine völlig sinnfreie Analogie zwischen Gott und Wahrheit zusammen (mit der ein Küng oder Ratzinger ohne weiteres ihre Verteidigung des Christentums hätten bestreiten können): „Daß eine Religion sich brüsten konnte, als einzige im Besitz der Wahrheit zu sein, kam mir lächerlich und furchterregend zugleich vor.“ So weit – so richtig. „Die Frage nach der Wahrheit beantworten heißt sie aufheben, doch das wird den Religionen, sosehr sie sich auch darum bemühen, sich an die Stelle dieser Frage zu setzen, nie gelingen.“ Warum sollte die Frage nach der Wahrheit ihre Aufhebung beinhalten? Das ist nicht nur völliger Nonsens, sondern einfach ein billiges Spiel mit Paradoxien, um Geist dort zu suggerieren, wo einzig eine Denkwüste herrscht. Wahrheit lässt sich definieren, auch Wahrheitskriterien lassen sich festlegen (ob man all diesen Versuchen immer zustimmen kann sei dahingestellt), sie ist aber keineswegs etwas Mystisches oder Paradoxes. Diese produzierten Wortwolken (vergleichbar denen von Hegel über Heidegger bis Adorno und Habermas) lenken einzig von der intellektuellen Unfähigkeit der Genannten ab, sich den Begriffen auf reinliche und logisch rationale Weise zu nähern. „Schon ihr [der Religion] Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein, widerlegt sie. Denn was ist das für eine Wahrheit, die von sich behauptet, eine zu sein?“ Wieder wird so getan, als ob es sich hier um eine völlig unbeantwortbare Frage handeln würde, ein unhintergehbares Abstraktum oder Mysterium, zu dem wir keinen Zugang hätten. (Um solchem Gewäsch zu entgehen, soll man die Frage nach der Wahrheit einer konkreten Aussage stellen bzw. nach Kriterien suchen, um diese Frage beantworten zu können.) Außerdem: Die Wahrheit kann von sich nicht behaupten, wahr zu sein: Wahr ist bestenfalls eine Aussage. Dieses Jonglieren mit Begriffen, die sich wieder auf sich selbst beziehen und damit scheinbar Widerspruchsvolles (oder vermeintlich Kluges) ausdrücken, ist vollkommen sinnfrei: Sobald sie von ihrem salbungsvollen Ton befreit auf ihren Inhalt hin analysiert werden, bleibt nur eine sinnlose Aneinanderreihung von erhaben klingenden Begriffen zurück.
„Die Gottesidee ist stets mit der Idee der Wahrheit verknüpft.“ Stimmt, dagegen ist nichts einzuwenden, wenngleich auch die Gottesverfechter es mit der Wahrheit nicht immer so genau nehmen – und schon gar nicht mit Kriterien oder Definitionen. „Wenn es aber »Wahrheit« gibt, ist sie unendlich, also unfaßbar (weil sie ganz in sich aufgeht, alles in sich aufnimmt und alles in ihr aufgeht).“ Wieder eine völlig aus der Luft gegriffene Aussage, die absolut keinen Gehalt besitzt. Es gibt nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass dem so ist: Zumindest sollte derjenige, der eine solche Behauptung aufstellt, irgendeinen Grund, ein Argument dafür ins Feld führen. „Eine »Wahrheit«, die behauptet, eine zu sein, setzt die Idee Gottes herab, weil in ihr die Möglichkeit der Unwahrheit gegeben ist.“ Ein weiteres Mal das Spiel mit der Paradoxie (man hört förmlich die Theologen – Gott ist das Transzendente im Immanenten, das Immanente im Transzendenten: Gott ist also irgendwie alles und nichts und wenn die lautmalerische Transkription eines Jodlers hier stünde, wäre die Aussagekraft ähnlich groß). „Über Wahrheit zu sprechen setzt den Irrtum voraus, und das bedeutet, daß man auch an Gott zweifeln kann und muß.“ Nun ist tatsächlich Wahrheit und Falschheit nicht zu trennen – allerdings ist der Irrtum nicht der Gegensatz von Wahrheit (und noch viel weniger ihre Voraussetzung): Ein Irrtum kann durchaus wahr sein. Aus solchen Einfälteleien lässt sich nur evident machen, wie wenig der Autor über seine wunderliche Wortansammlung nachzudenken bereit war. „Wenn Gott existierte, gäbe es weder Wahrheit noch Zweifel, dann gäbe es nichts außer Gott.“ Diese Gottesdefinition (der Goldschmidt dann in weiterer Folge ständig widerspricht, aber konsistentes Denken ist seine Stärke ohnehin nicht) ist inhaltsleer und beliebig (bzw. widerspricht all jenen Gottesvorstellungen, mit denen er sich beschäftigt – jenen der monotheistischen Religionen): Eigentlich handelt es sich nur um eine Paraphrasierung des Jesuswortes, dass er „die Wahrheit sei“ (was immer das bedeuten solle: Ähnliches hat auch Trump schon von sich behauptet).
Mit ähnlichem Unsinn konfrontiert Goldschmidt seine Leser über die nächsten 60 Seiten hinweg, er zitiert Böhme und Silesius, behauptet, dass er bei Descartes eine Bestätigung seiner Gott ersetzenden „Selbstpräsenz“ (sein Wunder des Daseins und sein Wundern über das Dasein) gefunden habe (im „cogito“), weil er erkenntnistheoretisch und philosophiehistorisch völlig unbeleckt durchs Leben wandelt und deshalb problemlos alles für seinen eigenen Unsinn in Anspruch nehmen kann. Und der nächste Schwafler (Jacques Derrida) kommt da natürlich gelegen: „Die hyperbolische Kühnheit des cartesianischen Cogito, seine unwahrscheinliche Kühnheit, die wir nicht mehr als Kühnheit verstehen, weil wir im Unterschied zu seinen Zeitgenossen zu sicher sind, zu sehr an sein Schema gewöhnt, mehr als an sein intensives Erleben, seine unwahrscheinliche Kühnheit besteht also in der Rückwendung zu einem Urpunkt …“. Dass dieser „Urpunkt“ ein archimedischer Punkt hätte sein sollen, um im Rahmen des (gescheiterten) klassischen Rationalismus eine absolute Begründung zu finden – für Leute wie Derrida oder Goldschmidt zu trivial (oder zu hoch).
Weil ihm Gott nicht zupass kommt, er aber so ohne Wunderbares einfach nicht sein will, erfindet er sich seine ganz private Metaphysik: „Wieviel rätselhafter und erhabener als Gott ist doch für jedes Denken dieses unüberschreitbare, intime und anonyme Selbst, das jemand und niemand zugleich ist! Ich bin der einzige, der das »Ich« meines Ichs ist, jemand und niemand, der einzige, der mich existieren fühlt, auch diesseits des Ichs, zurückgeworfen auf die bloße, leere Feststellung, auf der alles beruht, die Selbstkonstatierung, die ich mit aller Welt teile.“ Offenbar ist ihm überhaupt nicht daran gelegen, Probleme zu lösen, sondern etwas noch „Rätselhafteres“ als Gott zu finden: Die er in der von ihm propagierten „Selbstpräsenz“ zu erlangen glaubt. Weil es aber „ungeheuren Mut“ erfordere, in diesen Abgrund zu blicken (weniger Mut als Toleranz von Blödheiten aller Art ist erforderlich, sich mit diesen Abstrusitäten beschäftigen), deshalb hätten sich nur wenige Philosophen daran gewagt (und nun darf Wittgenstein natürlich nicht fehlen): „Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.“ Endlich sind wir wieder heimgekehrt ins Unsagbare, Unaussprechliche, mit dem Theologen und Philosophen Abertausende von Seiten vollzuschmieren pflegen, wiewohl sie – wenn einfach nur konsequent – gefälligst die Feder weglegen, die Finger von der Tastatur nehmen (oder schlicht den Mund halten) sollten. Tun sie aber nicht, je unaussprechlicher, unsagbarer – je geschwätziger.
Dieser Essay ist ein Paradebeispiel dafür, warum die Philosophie – berechtigterweise – in Misskredit geraten ist und man jungen Menschen kaum zu einem entsprechenden Studium raten kann. Es ist das Skandalon einer selbstgefälligen Disziplin, die sich in blasierten Attitüden gefällt und von Aufklärung, Logik, Wissenschaft (bzw. wissenschaftlicher Methodologie) nichts wissen will. Goldschmidt hat auf diesen knapp 90 Seiten (von autobiographischen Fakten abgesehen) nur völlig inhaltslose Phrasendrescherei betrieben, nicht ein Satz zeugt von wirklichem Nachdenken, von geistiger Auseinandersetzung mit dem Thema. Dieses Geschwätz – garniert mit Banalitäten und pseudoklugen Paradoxien – ist paradigmatisch für eine akademisch abgehobene Kultur, die sich ständig ihrer Intellektualität rühmt und ganz nebenher auch die Populisten von links und rechts mit „Argumenten“ versorgt: Dieses aussagelose, dumpfe, in Wortnebeln versinkende Denken kann für alles und jedes benutzt werden.
Georges-Arthur Goldschmidt: In Gegenwart des abwesenden Gottes. Frankfurt a. M.: Fischer Verlag (ebook).