Wilhelm von Humboldt: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts

Wilhelm von Humboldt (1767-1835) verfasste diese Schrift in den letzten Jahren seines Lebens. Sie erschien postum 1836, ist also wohl als unvollendet zu qualifizieren. Ihr Titel ist irreführend, ebenso ihre Einordnung in der Ausgabe, die ich gelesen habe – nämlich die fünfbändige Werkausgabe (Studienausgabe), die in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt 2010 erschienen ist. Dort figuriert diese Schrift in Band III „Schriften zur Sprachphilosophie“. Nun ist Wilhelm von Humboldt wie sein jüngerer Bruder Alexander eine Figur des Übergangs, in der die „alte“ Form wissenschaftliches Arbeitens (ein wenig beobachten, viel spekulieren und theoretisieren) abgelöst wird durch eine neue (viel beobachten, wenig spekulieren und nur Theorien aufstellen, die sich beweisen lassen).

Denn Wilhelm von Humboldt interessiert sich nicht fürs (scholastische) Universalienproblem und disqualifiziert sich damit im Grunde genommen als Sprachphilosoph. Humboldt bezieht sich auch nicht auf Schriften zum Ursprung der Sprache, die noch in seiner Jugend Furore machten. Johann Gottfried Herders „Abhandlung über den Ursprung der Sprache“ (der immerhin das Verdienst zuzusprechen ist, als erste Schrift zu diesem Thema den Ursprung der Sprache nicht in Gott zu sehen – und das von einem Theologen!) wird mit Stillschweigen übergangen, ebenso dann natürlich Johann Georg Hamanns Auslassungen zu diesem Thema. Allenfalls ist in dem Kapitel über Poesie und Prosa, in der Skepsis, dass nun die Sprache zuerst in der poetischen Form existiert habe, eine leise Kritik an den Vorgänger-Theorien zu hören.

Dass Wilhelm von Humboldt ein Mann des Übergangs ist, zeigt sich allerdings daran, dass er solche Fragen überhaupt erörtert. Das von ihm gestreifte Problem der Schriftlichkeit (wie sehr wird die Entwicklung einer Sprache dadurch beeinflusst, dass sie geschrieben wird; welchen Unterschied macht es allenfalls, ob wir eine alphabetisch basierte Schrift verwenden oder eine Silbenschrift wie das Chinesische) wurde dann zwar in der Linguisitk für mehr als 150 Jahre totgeschwiegen, Sprache immer als mündliche Sprache verstanden. Aber der grosse Einfluss, den Humboldt der Dichtung, den Dichtern zuordnet, kann nur als Relikt einer älteren Auffassung akzeptiert werden.

Doch im Grossen und Ganzen legt Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift das Gewicht auf den ersten Teil des im Titel Angesprochenen. Sehr kenntnisreich und detailliert untersucht er die verschiedenen Formen der menschlichen Sprache, die Herkunft von Partikeln, Genera, Tempi. Schon zu Beginn räumt er mit der Vorstellung auf, dass nur eine synthetische, agglutinierende Sprache als „entwickelt“ gelten kann; sehr rasch dann auch mit der, dass nur „entwickelte Völker“ eine entwickelte Sprache hätten. Seine eigenen Untersuchungen der baskischen Sprache, Untersuchungen zu den Sprachen der nord- und mittelamerikanischen Indianer, zu Südseesprachen und Maori-Sprachen, zum Chinesischen – Humboldt bezieht alles mit ein, was zu jener Zeit bekannt war. Seine Referenzpunkte sind denn auch nicht Hamann und Herder, sondern die Sprachwissenschafter seiner Zeit: Friedrich Schlegel, Jacob Grimm, Franz Bopp.

Und so haben wir zum Schluss des Werks zwar einen Überblick über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, der wegweisend war für die Entwicklung der Sprachwissenschaft zumindest in Deutschland, aber kaum Hinweise auf deren Einfluss auf die Entwicklung des Menschen. Mag sein, Humboldt hätte, hätte er länger gelebt, mehr zu letzterem noch geschrieben. Aber, finde ich, es ist gut so. Dieser Humboldt hier ist moderner.

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