Mervyn Peake: Gormenghast [Im Schloß]

Für einmal ist es nicht die deutsche Übersetzung, die einen unpassenden Titel gewählt hat, nein, für einmal ist der Titel des Originals schon unpassend. Bereits beim ersten Band von Mervyn Peakes geplanter, aber nie vollendeter Reihe über – ja, über wen oder was eigentlich: Titus, Gormenghast? – dessen Titel im Englischen Titus Groan, im Deutschen Der junge Titus lautet, passt’s nicht. Der Titel des ersten Bandes nämlich suggeriert, dass Titus Groan die Hauptperson sei, der des zweiten, dass es diesmal das Schloss selber sei. In Tat und Wahrheit ist es umgekehrt: Das Schloss steht im Zentrum von Band 1, der junge Titus (zu Beginn und am Ende) in dem von Band 2.

Seit den Ereignissen von Band 1 sind rund 5 Jahre vergangen, und wir treffen Titus als siebenjährigen Knaben wieder – in einem Alter also, in dem er ein eigenständiger Protagonist sein kann. Seine Eigenständigkeit und Handlungsfähigkeit stellt Titus dann sogleich unter Beweis: Statt zur Schule zu gehen, sattelt er sein Pony und reitet alleine in den Wald, der Gormenghast umgibt. Titus nämlich hat schon im zarten Alter von 7 Jahren genug davon, nur der willenlose Träger und Ausführer eines sinnlosen, uralten Rituals zu sein. Also schwänzt er die Schule und erkundet die Welt.

Diese Schule ist praktisch das einzig wirklich Neue, das in Gormenghast eingeführt wird. Architektonisch genau so verwinkelt und schmutzstarrend wie das Schloss selber, ist schon das Gebäude ein Highlight dieses Bandes. In den Gestalten der Lehrer übertrifft sich Peake dann, was Skurrilität von Aussehen und Verhalten betrifft, noch einmal. Leider tritt die Schule bald in den Hintergrund, wenn wir Titus Groan auf seinem weiteren Weg begleiten. Am Ende des Romans wird er 17 Jahre alt sein.

Wer aber nun einen (skurrilen) Entwicklungsroman erwartet hat, wird enttäuscht. Titus will mit 7 Jahren sich nicht dem Ritual fügen, er will es mit 17 immer noch nicht. So ist es kein Wunder, wenn sich das Gewicht auf jene Figur verlagert, die als einzige eine Art Entwicklung durchmacht: Zusehends geht es im zweiten Band um Steerpike und dessen Versuche, die Macht im Schloss an sich zu reissen. Dafür entwickelt er sich tatsächlich – aber nur bedingt interessant, nämlich zu einem recht eindimensionalen Bösewicht. Er, der in Band 1 noch durchaus ambivalente Züge trug, mordet nun ohne Skrupel und ohne Grund. Auch macht er sich schamlos an Fuchsia heran, Titus‘ um 14 Jahre ältere Schwester, die mittlerweile zwar schon beträchtlich gegen die 30 geht, aber im Grunde genommen immer noch in pubertären Träumen und Sehnsüchten nach Liebe gefangen ist. Ein leichtes Opfer für einen Heiratsschwindler. Erst gegen Ende wird Steerpike wieder interessanter, als er seinen sicheren Griff über Schloss und Bewohner verliert, weil er seit einem seiner Morde ein anderer geworden ist, unsicherer und mit einer Feuer-Phobie versehen.

Dieser zweite Band räumt mit dem uns aus Band 1 vertrauten Personal des Schlosses so ziemlich auf. Praktisch alle sterben; die meisten Toten gehen als Morde auf das Konto Steerpikes. Doch auch Steerpike selber überlebt Band 2 nicht. In einem Show-Down am Ende des Romans tötet ihn der junge Titus im Zweikampf. Titus glaubt damit seine Schwester zu rächen, die gerade eben aus den Fluten – es herrschen sintflutartige Zustände, ausser den paar höchsten Türmen steht das ganze Schloss unter Wasser – die gerade eben tot aus den Fluten gezogen wurde, wollte ich sagen. Allerdings ist Fuchsia als eine der wenigen nicht durch Steerpikes Hand gestorben; ihr Ertrinken war tatsächlich ein Unfall, an dem der Emporkömmling unschuldig ist. Die übrigen Bewohnder des Schlosses ihrerseits glauben, Titus hätte das Ritual gerächt, an dem sich Steerpike so schmählich vergangen hat. Doch das Ritual kümmert Titus nicht.

Im Gegenteil: Zum Schluss, nach einer Rekonvaleszenzzeit, besteigt der nunmehr zum Erwachsenen gwordene Titus sein Pferd und reitet los, weg vom Schloss. Während er beim ersten Mal nach einem Tag wieder zurückgebracht wurde, soll es diesmal wohl für immer sein.

Um ehrlich zu sein, hat mir Band 2 weniger gut gefallen als der erste. Das mag daran liegen, dass der Überraschungseffekt, der mich beim ersten gepackt hat, verflogen ist. Die Beschreibung der skurrilen Gestalten, vor allem im ersten Drittel des Romans, fasziniert zwar nach wie vor. (Wie überhaupt der Maler Peake Gestalten, Landschaften und Architektur ausgezeichnet beschreiben kann!) Aber die tritt zugunsten von viel „Action“ in den Hintergrund, und da scheint mir die Geschichte als solche ein bisschen allzu orientierungslos dahin zu eiern, und die Charaktere scheinen mir an Prägnanz zu verlieren. Steerpikes Ambivalenz geht verloren, und ich vermisse sie, denn Steerpike war der interessanteste Charakter von Titus Groan. Mervyn Peake zitiert stattdessen immer mehr klassische Motive der Abenteuerliteratur, bis zuletzt dann gar der junge Held auf eine Queste auszieht. Ob diese Zitate trivialer Literatur ironisch gemeint sind, kann ich nicht entscheiden. Sicher, der zweite Band einer Reihe ist fast immer der schlechteste, weil ein Lückenfüller. Aber ich zweifle, dass sich Peake einen Gefallen getan hat, als er die Ereignisse um Titus Groan und Gormenghast zu einer Reihe auszubauen begann. (Ein abschliessendes Urteil werden wir wohl nie fällen können, da Peake der Abschluss der Reihe versagt blieb. Es bleibt noch ein Band, den ich demnächst lesen werde – ein Band, der nicht als Abschluss gedacht war.)

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