Der Titel deutet es an: Wir finden im fünften Band der Werkausgabe neben den üblichen, meist um Geld bettelnden Briefen Baudelaires Literatur- und Kunstkritiken.
Der Literaturkritiker Baudelaire schreibt (auch), um sich selber zu definieren – sowohl in der Abgrenzung wie in der Zurechnung. Die Schriften über seinen literarischen Übervater, Edgar Allan Poe, wurden alle in Band 2 zusammengestellt. Poe muss man sich natürlich als Folie im vorliegenden Band hinzudenken. Eine andere Bezugsfigur ist Victor Hugo, den Baudelaire immer wieder erwähnt. Bei Hugo sind die Beziehungen schon komplexer, denn Hugo lebte noch, und konnte von Baudelaire nicht so einfach vereinnahmt werden wie der bereits verstorbene Poe. Hugo war für Baudelaire vor allem der Romantiker. Baudelaire begriff sich im Grossen und Ganzen als Gefolgsmann Hugos; in Details, auf die hier einzugehen nicht lohnt, wollte er sich allerdings anders wissen. Auch Hugo stellt eine Folie dar, vor deren Hintergrund Baudelaire seine Kritiken verfasst.
Madame Bovary von Gustave Flaubert wird dann namentlich besprochen. Baudelaire versucht, Flaubert vom Stigma des Realismus zu reinigen; und so wird der Aufsatz sehr rasch zu einer Auseinandersetzung mit den Begriffen der Romantik und des Realismus. Und obwohl wir heute sagen würden, dass Baudelaire selber, vom Inhalt seiner Fleurs du Mal her gesehen, ebenfalls stark in Realismus und Naturalismus weist, versteht er sich selber als genuinen Romantiker, die Romantik als die wahre Form der Literatur, und versucht entsprechend, Flaubert für die Romantik zu reklamieren. Allerdings ist zu sagen, dass die französische Romantik ein Phänomen der Grossstadt war, also von Paris. Die deutsche Romantik ist genuin ländlich, ihr fehlte schon soziologisch die moderne Grossstadt. Wien war zwar gross, aber nicht modern. Was von den deutschen Romantikern grossstädtisch veranlagt war (und dann von den Literaturgeschichtlern sofort als „Vormärz“ aus der Romantik ausgeklammert wurde), ging nach Paris – namentlich Heine oder Börne. Als Berlin dann allmählich als Grossstadt qualifizierte, lag die deutsche Romantik im Sterben, und einer ihrer letzten, Ludwig Tieck, hatte daselbst bereits den Weg zum Realismus gefunden. Die englische Romantik hätte zwar in London eine Grossstadt gehabt, die neben Paris hätte bestehen können – sie war aber, aus Gründen, die zu erörtern die Grenzen dieses Essays sprengt, komplett ländlich ausgerichtet. Was ich sagen will: Die Orientierung an der Grossstadt ist dafür verantwortlich, dass für unser heutiges Empfinden die Werke eines Hugo oder eines Baudelaire näher am Realismus stehen, als an der Romantik.
Weitere Essays Baudelaires behandeln seinen heute weitestgehend unbekannten Freund Charles Asselineau, sowie Théophile Gautier, den er über den grünen Klee lobt und der heute wohl fast nur noch dem Literaturhistoriker bekannt ist. Zum Schluss des literarischen Teils figurieren Notizen zu den Gefährlichen Liebschaften, die Baudelaire wohl einmal zu einer Kritik ausarbeiten wollte, wozu er aber offenbar nicht mehr gekommen ist. Sein Fazit zu diesem Buch ist typisch für ihn:
Wenn dieses Buch brennt, kann es nur wie Eis brennen.
Und auch ein Hinweis zu seinem Verständnis literarischen Schaffens findet sich:
Man gab sich damals sehr viel Mühe um das, was man eingestandenermaßen für eine Bagatelle hielt, und man überantwortete sich nicht minder der Verdammnis als heutzutage. Aber die Art und Weise war weniger töricht. Man betrog sich nicht.
Wenn wir Baudelaires Aufsätze zur Kunst lesen, vor allem zum Salon 1859, sticht sofort eine grosse Verwandtschaft zum englischen Kunstkritiker Kenneth Clark ins Auge. Beide sind als Kritiker äusserst konservativ, die aktuellen Tendenzen der Kunst verkennend oder nicht wahrnehmend. Bei Baudelaire ist es die aufkommende Kunstform der Landschaftsmalerei, die er fast ganz ignoriert. (Dass 100 Jahre später mit Kenneth Clark ein ebenso konservativer Kunstkritiker die Landschaftsmalerei anerkennt und ihre Spuren weit in die Zeit vor Baudelaire zurückverfolgt, gleichzeitig aber seinerseits moderne Tendenzen ignoriert, zeigt die Problematik einer jeden konservativen Kunstkritik, die immer nur akzeptieren kann, was seit langem schon akzeptiert ist.) Auch in der Kunstkritik ist Baudelaire (hierin abermals in Clark gespiegelt) der Romantik verpflichtet. Dass Baudelaire die Landschaftsmalerei nicht anerkennen kann, hängt dann wiederum auch mit dem grossstädtischen Charakter der französischen Romantik zusammen, für die z.B. grünes Gras bestenfalls uninteressant und schlimmstenfalls hässlich war. (Dass der ebenfalls der Romantik verpflichtete Clark die Landschaftsmalerei als Kunstform akzeptieren und besprechen kann, hängt natürlich auch mit der oben erwähnten Tatsache zusammen, dass die englische Romantik, an der der Engländer Clark sich ebenso selbstverständlich orientiert wie der Franzose Baudelaire an der französischen, dass diese englische Romantik eben kein Phänomen der Grossstadt war.)
So erfahren wir in diesem Band sehr viel über Baudelaire, die Art und Weise, wie er sich im Kunstgeschehen seiner Zeit verortet – wissentlich und unwissentlich.