Ich muss gestehen, dass mich dieses Jahr noch keine Lektüre so fasziniert, interessiert und intrigiert hat, wie die von Titus Groan – selbst Les Fleurs du Mal nicht. Das mag daran liegen, dass ich vor der Lektüre der Fleurs du Mal genau wusste, was mich erwartet, vor Titus Groan nicht. Denn Titus Groan ist meiner Meinung nach Opfer eines Etikettenschwindels geworden – segelt er doch in der Buchhandelsbranche unter dem Siegel „Fantasy“. Aber „Fantasy“ ist das hier höchstens, wenn wir bereit sind, zuzugeben, dass auch ein Franz Kafka „Fantasy“ geschrieben hat.
Wir treffen weder auf übernatürliche Wesen mit übernatürlichen (Zauber-)Kräften wie Feen oder Elfen, noch auf Monster wie Riesen oder Zwerge. Das heisst: auf letztere schon – in dem Masse eben, wie halt Menschen Riesen- oder Zwergwuchs aufweisen. Denn das Personal von Titus Groan umfasst allessamt nur Menschen. Allerdings haben diese Menschen auch allesamt etwas Monströses an sich – körperlich wie geistig. „Schön“ im landläufigen Sinn ist keiner, und „nett“ auch nicht. Viele sind auch geistig sehr einfach gestrickt, um nicht zu sagen an der Grenze zur Debilität. Andere sind anderweitig psychisch angeschlagen, Melancholiker an der Grenze zur Depression.
Der ganze Roman spielt auf Schloss Gormenghast und in dessen näherer Umgebung. Dem Lord Sepulchrave, 76. Earl of Gormenghast, ist der lang ersehnte Erbe geboren worden. Der Erbe (und Titelheld) ist eine über weite Strecken des Buchs, das seinen Namen trägt, gar nicht vorkommende Gestalt – wird er doch am Schluss des Buchs auch erst seine knappen zwei Jahre alt sein, und kaum in der Lage zu sprechen. Das Buch schildert über weite Strecken den Alltag auf Gormenghast – einer in sich abgeschlossenen Gemeinschaft, die von sehr speziellen und sehr alten Ritualen geprägt ist. Von diesen Ritualen lassen sich alle treiben – nur die hauptsächlich interessierende, weil fast als einzige auch agierende Person nicht: Steerpike. (Peake mochte offenbar sprechende Namen – hierin ähnlich wie Charles Dickens.) Steerpike ist ein Intrigant, der versucht, seine Position im Schloss mit allen Mitteln zu verbessern. Er beginnt als Küchenjunge und beendet den Roman tatsächlich als Lehrling des Zeremonienmeisters, der vielleicht wichtigsten Figur im Schloss. Dass er dabei nicht nur die Bibliothek Sepulchraves in Brand gesetzt und die ganze dort versammelte Familie dem potentiellen Feuertod ausgesetzt hat (nur, um die Familie als Held retten und so seine eigene Position im Schloss verbessern zu können), sondern auch tatsächlich den alten Zeremonienmeister dabei umkommen liess (sein Lehrmeister ist der Sohn, der aber seinerseits keinen weiteren Sohn mehr hat, das Amt also nicht mehr vererben kann), stört Steerpike wenig. Auch sonst erleben wir Intrige über Intrige im Schloss – man könnte sagen, jeder intrigiert gegen jeden, der Kammerdiener gegen den Chefkoch, die Schwestern Sepulchraves gegen ihren Bruder etc.
Das ist nicht „Fantasy“ – Peake holt seine Inspiration ganz wo anders als bei Tolkien, der ja auch nur runde 10 Jahre älter ist. Da ist einerseits die Gothic Novel, der Schauerroman der englischen Romantik – allerdings ohne übernatürliches Zugemüse, eher also noch die Weiterentwicklung im viktorianischen Roman eben eines Dickens – des alten, zynisch gewordenen Dickens notabene. Auch der Deutsche E. T. A. Hoffmann, dort, wo er den Wahnsinn seiner Figuren schildert, gehört zu den Ahnen von Titus. Kafka hängt ganz sicher ebenfalls in der Ahnengalerie: Wenn beim Deutschprager der Landvermesser in alptraumhaften Sequenzen immer und immer wieder versucht, ins Schloss vorzudringen, versuchen Peakes Figuren gar nicht erst aus dem Schloss zu entkommen. Ja, wenn sie daraus verbannt werden, empfinden sie es noch als Strafe. Und dies, obwohl ihr eigenes Leben im Schloss mindestens so alptraumhaft verläuft wie das des Landvermessers. Peakes Schloss, das von einem Flügelende zum gegenüberliegenden einen Durchmesser von mehreren Meilen hat, und vor dessen Toren die „mud dwellings“ liegen – die Lehmhütten der nicht im Schloss wohnenden aber vom Schloss abhängigen Landbevölkerung – erinnert in vielem an den chinesischen Kaiserpalast, an die „Verbotene Stadt“. Nicht zuletzt die innerhalb des Schlosses stattfindenden Intrigen lassen mich zur Vermutung kommen, dass Peake (der seine ersten Lebensjahre im noch kaiserlichen China verbracht hat!) Luo Guanzhongs Geschichte der drei Reiche gekannt haben muss, mindestens in einer Version ad usum delphini. So, wie auf Gormenghast, so wird auch in Luo Guanzhongs Höfen intrigiert.
Die landesübliche Lesung des Romans als „Fantasy“ verlangt, dass auch ein Bösewicht vorkomme, und so hat Steerpike diese Rolle übernehmen müssen. Aber Steerpike kein schlimmerer Mensch als der von Luo Guanzhong so verehrte Liu Bei, der so wenig auf Intrigen an den Höfen, die ihn aufgenommen hatten, verzichtet, wie Steerpike. Wir tun sowohl Steerpike als Figur, wie dem Roman als ganzem, Unrecht, wenn wir Titus Groan in die Schublade „Fantasy“ stopfen. Entstehungszeit und -ort weisen sogar auf eine ganz andere Verwandtschaft hin: Peake hat die ersten Teile von Titus Groan im Schützengraben des Zweiten Weltkriegs geschrieben. Die Hölle des Kriegs – ob nun eines alten chinesischen oder eines aktuellen europäischen – hat Peakes Roman geprägt. Nicht, dass Titus Groan ideologisch angereichert wäre – es ist im Gegenteil keine Spur von Ideologie darin zu finden – aber: In Frankreich entstand aus den traumatischen Erlebnissen der Jahre 1939-1945 der Existenzialismus, in England finden wir kaum Spuren davon. Mit Ausnahme eben von Titus Groan. Auch für dessen Protagonisten gilt:
L’enfer, c’est les autres.
Diesem Satz ein finites Verb!
Ich glaube, Peakes Gormeghast-Trilogie läuft hierzulande bloß deswegen unter Fantasy, weil sie in Deutschland während des vorletzten oder vorvorletzten Tolkien-Hypes auf den Markt gekommen ist und der Verlag darauf spekulierte, sie in ähnlicher Aufmachung an dieselbe Zielgruppe verhökern zu können.
Meine Lektüre fällt jedenfalls in die diese Zeit. Seitdem hatte ich immer mal wieder vor, die drei Bände noch einmal im Original zu lesen. Vielleicht wird Deine Lektüre ja zum Anstoß dazu.