Sofja Tolstaja: Eine Frage der Schuld

Verstört und (vor allem wohl) verärgert muss die Gräfin Tolstaja gewesen sein nach der Lektüre des kleinen Romans ihres Gatten Leo, Kreutzersonate. Und, obwohl sie sich für die Veröffentlichung der Kreutzersonate eingesetzt hatte, konnte sie sich einer Replik nicht enthalten auf die öffentlichen Anschuldigungen ihres Mannes, als die sie seinen Roman empfand. Sie schrieb diese Replik in Form eines eigenen Romans, von 1892-1893, veröffentlichte ihn aber nie. Ob sie ihn ihrem Mann zu lesen gab, wissen wir nicht. Tolstoi erwähnt Eine Frage der Schuld nirgendwo in seinen privaten Notizen; daraus wie der Übersetzer von Sofjas Roman zu schliessen, er sei äusserst betroffen gewesen und habe deshalb geschwiegen, halte ich für gewagt. Erst 1994 wurde Sofja Tolstajas ‚Gegenroman‘ (dessen Titel Чья вина? wörtlich übersetzt heisst: Wessen Schuld?) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, erst im 21. Jahrhundert auf Deutsch. Der Manesse-Verlag hat Roman und Gegenroman in seiner Bibliothek der Weltliteratur in einem Bändchen zusammen herausgegeben – eine gute Entscheidung.

Denn Eine Frage der Schuld ist eine einzige grosse Watsche an die Adresse von Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Dessen Entsetzen vor der Sexualität wird als rein vordergründiges Gehabe interpretiert, indem der Protagonist von Tolstajas Roman ein – wie wir heute sagen würden – komplett schwanz-gesteuertes Spermatierchen vorstellt.

Literarisch gesehen, ist Tolstajas Roman nicht sehr interessant. Eine gerade von vorn nach hinten erzählte Liebes- und Ehegeschichte mit tragischem Ausgang. Während es Tolstoi gelingt, durch den Rahmen seiner Erzählung eine dumpfe und düstere Atmosphäre zu kreieren, die dann auf die gesamte Binnenerzählung abfärbt, verzichtet Tolstaja auf jedweden erzähltechnischen Trick. Sie referiert die Geschichte einer jungen Frau, Anna, die sich mit einem ein Stück älteren, reicheren und gesellschaftlich angeseheneren Mann verheiratet. Auf ihrer Seite ist es Liebe, auf seiner Seite – das macht der allwissende Erzähler klar – im Grunde genommen nur Geilheit, die Lust des alternden Mannes auf den Körper einer jungen Frau, eines Beinahe-Kindes. Völlig durchsichtig also nicht nur die Anspielungen auf Kreutzersonate, sondern auch auf Sofjas und Lews eigene Ehe. Nur die Qualitäten als Schlüsselroman machen Eine Frage der Schuld interessant.

Die Geilheit des Mannes nun zieht sich durch den ganzen Roman. Ob es die Tatsache ist, dass er der jungen Gemahlin zumutet, dass auf dem Gut, wo sie leben, auch die Magd weiterhin angestellt bleibt, die seine Geliebte war (oder ist, wie Anna vermutet), oder ob für den Mann die einzige Form der Versöhnung es ist, seine Frau nach dem Streit de facto zu vergewaltigen: der äusserlich so kultivierte und intelligente Mann von Adel ist keineswegs ein moralisches Vorbild für die Welt. Und wenn Tolstaja von der Pleite berichtet, die die Hochzeitsnacht gewesen ist, teilt der Leser ihre Schadenfreude am Versagen des Mannes ebenso, wie ihr Mitleiden mit der jungen Frau, die wie damals üblich völlig ohne Vorwissen und -kenntnisse in diese Chose geschlittert ist. Die junge Frau wird die Sexualität in den Armen ihres Mannes geniessen lernen, doch die Brutalität des Mannes wird ihr den Genuss wieder verderben.

Kein Wunder, kommt es zu einer – rein geistigen – Liebesbeziehung mit einem feinfühligen Nachbarn; kein Wunder bei den damaligen Verhältnissen, endet die Geschichte tragisch. Auch in Eine Frage der Schuld wird der Mann die Frau aus Eifersucht umbringen.

Eine Frage der Schuld – bei aller vordergründigen Ehrlichkeit Posdnyschews ist für Sofja Tolstaja der Mann in Kreutzersonate eben doch der schuldige Part am Scheitern dieser Ehe. Die Schuld auf die Frau bzw. auf die von ihr ausgestrahlte sexuelle Anziehung abzuschieben, entlarvt Tolstaja als billige Ausrede. Beauty lies in the Eyes of the Beholder – und die sexuelle Anziehung ebenso. Falls Tolstoi den Roman seiner Frau zu lesen bekommen hat, führe ich sein Schweigen nicht auf seine Betroffenheit zurück – sondern ich vermute eine völlige Unfähigkeit seinerseits, ihren Standpunkt zu begreifen. Wahrzunehmen. Posdnyschew jedenfalls hätte Eine Frage der Schuld nicht verstanden.

Meine Empfehlung: Man sollte die beiden Romane immer zusammen lesen – Kreutzersonate und Eine Frage der Schuld. Deshalb gebührt dem Manesse-Verlag Dank für seine Entscheidung, die beiden (ja recht kurzen) Romane in einem Bändchen zu veröffentlichen.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 1

1 Reply to “Sofja Tolstaja: Eine Frage der Schuld”

  1. Nein, ich kann mir nicht vorstellen, dass das Schweigen auf Unverständnis zurückzuführen ist. Denn in der Kreutzersonate wird doch vollkommen klar, wer der Schuldige ist (wenn vielleicht ein wenig literarisch verbrämt, indem noch die berückende Musik eine Rolle spielt und verurteilt wird: Die so schön ist, dass der nachfolgende Akt unvermeidlich wird). Und selbstverständlich ist der Protagonist „schwanzgesteuert“, ein Macho ersten Ranges: Er träumt den Traum des asexuellen Heiligen und wird von seiner Natur eingeholt (und statt sich selbst zu kastrieren – wie es konsequent gewesen wäre, bringt er die Frau um). Mir scheint – auch wenn das nicht alles explizit ausgesprochen wird im Roman – dass sich Tolstoi genau dieser Implikation vollkommen bewusst war.

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