Leo N. Tolstoi: Kreutzersonate

Faszinierend, intrigierend, irritierend, verwirrend, ja verstörend – in dieses Wechselbad der Gefühle hat mich die Lektüre des kleinen Romans Kreutzersonate von Lew Tolstoi gestürzt. Ich bin da wohl nicht der einzige, wie Beispiele aus diversen Foren (z.B. hier oder hier) zeigen. Im übrigen ist so etwas gar kein schlechtes Zeichen für die Qualität eines Romans.

In Kreutzersonate erzählt Tolstoi die Geschichte eines Mannes, der seine Frau umgebracht hat. Tolstoi verwendet dafür eine klassische Rahmenerzählung, in der ein anonym bleibendes Erzähl-Ich von einer langen nächtlichen Zugsfahrt erzählt, in deren Verlauf ein zuerst angeregtes Gespräch unter Männern (natürlich über ‚die Frau‘) langsam verebbt, indem die meisten Teilnehmer sich schlafen legen, bis zum Schluss nur noch der anonyme Erzähler bleibt – und ein gewisser Posdnyschew. Der fängt nun seinerseits an, seine Geschichte zu erzählen und wird zum Ich der Binnenerzählung. Posdnydschew stammt aus besseren Kreisen, und gleich die ersten Dinge, die er zugibt, sind Affären des Jünglings mit diversen Frauen. Lasterhaft daran ist seiner heutigen Meinung nach (denn zu der Zeit hielt er sich durchaus für einen moralischen Menschen), dass er sich von jeder moralischen Verpflichtung gegenüber seinen Geliebten freisprach, z.B. wenn er diesen ein Kind gemacht hatte.

Schliesslich heiratet Posdnyschew ein jüngere Frau, die er nach seinem Vorbild zu formen hofft. Doch schon bald entfremden sich die beiden. Er wirft ihr vor, sich nur noch um die Kinder zu kümmern; sie fürchtet sich vor seinen verbalen und vor allem vor seinen sexuellen Attacken. Denn in der Theorie ist Posdnyschew zwar der Meinung, dass alle Sexualität Schweinerei sei – in der Praxis kann er sich der Schweinereien nicht enthalten, im Gegenteil. Es ist sogar so, dass er im Grunde genommen den Streit mit seiner Frau braucht, um – zur Versöhnung – mit ihr Sex haben zu können. (Er ist dabei zumindest im Nachhinein hellsichtig genug, zu wissen, dass diese Art von Versöhnung nur eine halbherzige sein kann, und der nächste Streit vorprogrammiert ist.) Vielleicht hätte die junge Frau, die wie jede junge Frau von Stand ohne jede sexuelle Aufklärung in die Ehe eintrat, ein für beide Gatten befriedigendes Sexualleben führen können, wenn nicht die Konventionen dem Mann alle Rechte gegeben hätten, und der Frau keine. Wir sprechen heute in Westeuropa von ‚Vergewaltigung in der Ehe‘ und vergessen gern, dass grosse Teile der Welt uns bei diesem Begriff nur verständnislos anblicken, weil die Frau noch immer zu Hab und Gut des Mannes gezählt wird, über das er nach Gutdünken verfügen kann. (Und ich vermute, dass dieses Phänomen auch in Westeuropa, auch unter Westeuropäern, keineswegs ausgestorben ist.)

In der Hoffnung, seiner Ehe aufzuhelfen, zieht Posdnyschew mit seiner Familie in die Stadt. Hier, wo sie endlich wieder in Kontakt mit Menschen kommt, blüht die Frau so richtig auf – auch körperlich. Sie beginnt gar, ihre Kinder, bisher ihr Ein und Alles, zu vernachlässigen (wirft ihr jedenfalls Posdnyschew vor, der ihr auf dem Land noch vorgeworfen hat, sich allzu sehr um diese zu kümmern), besucht Soiréen und gibt selber welche. Eines Tages kommt ein gewisser Truchatschewski in die Stadt. Posdnyschew kennt ihn von früher, und so wird er selbstverständlich bei seinen Soiréen zugezogen. Doch sofort ist auch die Eifersucht bei Posdnyschew wach – er glaubt zu bemerken, dass sich Truchatschewski und seine Frau animalisch zueinander hingezogen fühlen. Der irrsinnige Kreislauf von Streit und Versöhnung tritt ein eine weitere, noch härtere Phase ein.

Truchatschewski ist Künstler – na ja: ein zweitrangiger Amateur-Geiger. Auch Posdnyschews Frau macht Musik – Klavier auf einem noch tieferen Niveau. Die beiden spielen das eine oder andere Mal zusammen – was in der sexuellen Überempfindlichkeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts (die ja deswegen Freud auf den Plan rufen sollte) im Grunde genommen dasselbe war wie ein physischer Ehebruch. Als sie dann einmal in Gesellschaft zusammen Beethovens Kreutzersonate aufführen, ist es um Podnyschew geschehen. Der erste Satz (Adagio sostenuto – Presto; vor allem das Presto) wühlt in derart auf, dass er nachgerade glaubt, dem Ehebruch beigewohnt zu haben. Das tragische Ende ist vorprogrammiert: Posdnyschew tötet seine Frau in einem Anfall von Raserei.

Intrigierend und irritierend an dem kleinen Roman ist nicht seine Story. Die ist im Grunde genommen konventionell und banal. Auch die Verurteilung der Sexualität als Schweinerei ist nichts Neues und Aufregendes. Dass ein Presto einer Violinsonate der Wiener Klassik zum Wendepunkt der Geschichte wird, mutet heute seltsam an – diese Überempfindlichkeit haben wir auf allen Gebieten verloren. Was aber bis heute zu irritieren vermag, ist die einigermassen schonungslose Ehrlichkeit, mit der Tolstoi die Mechanismen männlichen Machtdenkens über die Frau entblösst: die eigentliche Schweinerei ist nicht die Sexualität an sich, sondern, dass Sex als Machtmittel missbraucht wird, und dass der Mann von Anfang bis Ende davon überzeugt ist, im Recht zu sein.

Es herrscht in der Rezeption, so viel ich sehe, ziemliche Einigkeit darüber, dass Tolstoi uns hier einen Einblick in seine eigene Ehe gewährt. Auch in sein eigenes Gefühlsleben, denn er muss ziemlich darunter gelitten haben, dass er auch noch mit über 60 Jahren (der Roman wurde 1887-1889 geschrieben) immer noch sexuellen Appetit verspürte – und nicht einmal geringen. Diese Ehrlichkeit verstört umso mehr, als dass viel unreflektierte Rechthaberei in Posdnyschew steckt.

Man(n) sollte dieses Buch nach der Lektüre nicht einfach so weglegen…

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