Dante Alighieri: Vita Nuova

Beim Gedicht-Zyklus Vita Nuova (1292-1295) handelt es sich um jenes Werk Dantes, das ihm rund 10 Jahre später Anlass geben würde für sein philosophisches Werk Convivio.

Formal gesehen, haben wir eine Mischform aus Lyrik und Epik vor uns: Die einzelnen Gedichte werden jeweils in Prosa eingeleitet bzw. kommentiert. Inhaltlich ist Vita Nuova quasi-autobiografisch gehalten: Dante erzählt davon, wie er schon als Kind zum ersten Mal seine Beatrice gesehen hat, wie er sie später wieder getroffen hat, wie er sich in sie verliebt hat (ob Gegenliebe bestand, bleibt offen), wie er seine Liebe unterdrücken musste, weil Beatrice unterdessen verheiratet war, wie Beatrice erkrankt und schlussendlich stirbt. (Ihren Tod allerdings mag er nicht direkt schildern, wir erfahren indirekt davon, wenn er die Trauer im Hause ihres Vaters schildert.) Zum Schluss erfahren wir, wie er eine andere, noch schönere Dame kennenlernt, und für ihn ein neues Leben beginnt.

Incipit vita nova – dieser Satz im im ansonsten italienisch gehaltenen Text auf Latein eingefügt worden. Dante war keineswegs der erste, der nicht mehr auf Latein Gedichte verfasste und publizierte, sondern in seiner Muttersprache.  Diese Sitte war aus dem Provenzalischen nach Italien eingewandert. (Dante war hingegen der erste, der auf Italienisch philosophierte!) So konnte Dante im Laufe des Textes auf bereits bestehende und fixierte lyrische Formen zurückgreifen; und er gibt vor jeder lyrischen Passage an, worum es sich im Folgenden formal handle. Die Vita nova enthält demnach 31 lyrische Gedichte – 25 Sonette oder Doppelsonette, 5 Kanzonen oder Kanzonenstanzen und eine Ballade. Alighieri greift auch inhaltlich auf Bestehendes zurück, den dolce stil nuovo nämlich. Dieser entstammt aus dem provenzalischen Minnesänger-Wesen, wo bereits die Liebe zu einem gottartigen Wesen überhöht wird – einer absoluten Idee im platonischen Sinne. Allerdings wird im dolce stil nuovo – Gegensatz zum klassischen Minnesang – nicht unbedingt eine adlige Dame angesungen; der dolce stil nuovo kennt bereits so etwas wie einen Seelenadel, der ebenfalls dazu qualifiziert. Damit geht er über mittelalterliche Anschauungen hinaus und weist auf Humanismus und Renaissance voraus. Dante wäre allerdings nicht Dante, wenn er den dolce stil nuovo nicht auf einen Höhepunkt führen würde.

Die Liebe zu Beatrice endet, als ihm diese in einer Vision erscheint – in der Gestalt des Kindes, wie er sie (selber Kind noch) zum ersten Mal gesehen hat. Der Dichter begreift, dass er über das schweigen muss, wovon er nicht reden kann. Und er gelobt sich, so lange zu schweigen, bis er in besserer Weise als im dolce stil nuovo über sie schreiben könne – ein Gelübde, das er in der Commedia einlösen wird.

Dante wäre nicht Dante, wenn er den dolce stil nuovo, indem er ihn auf den Höhepunkt führt, nicht nicht auch gleich überwunden hätte. Er tut das nicht erst im Convivio, dem Gastmahl. Man mag das Convivio als nachträgliches Umbiegen seiner eigenen, ursprünglich rein weltlich-erotischen Dichtung empfinden – was es zum Teil wohl auch ist. Aber die Tatsache, dass er im ansonsten italienischen Text das neue Leben auf Latein einführt, ist meiner Meinung nach Hinweis genug, dass Dante schon 1295 nicht einfach von einer andern Frau aus Fleisch und Blut sprechen will, wenn er zum Schluss des Zyklus davon erzählt, wie er nun eben jemand anders getroffen hätte – eine Frau, die ihn dafür tadelt, dass er sich wegen Beatrices Tod gehen lasse und nur noch in der Vergangenheit, der Erinnerung lebe. Was auf den ersten Blick wirkt, wie wenn Dante einer wäre, der sich mehr oder weniger flatterhaft schon bald nach dem Tod der Geliebten auf ein neues Techtelmechtel einlässt (und was in dieser Form wohl dem dolce stil nuovo Genüge tun würde), wird mit dem Tipp einer lateinischen Phrase in eine andere Dimension gehoben. Latein war damals noch die Sprache der Gelehrsamkeit, der Philosophie, und so halte ich es keineswegs (nur) für nachträgliche Uminterpretation seines eigenen Werks, wenn Alighieri knapp 10 Jahre nach dessen Entstehen den Zyklus dahingehend umdeutet, dass jene Dame eben die Philosophie höchstpersönlich gewesen sei. Er hat sich ja tatsächlich nach Beatrices Tod in ein Studium der Philosophie zurückgezogen.

Eine Lektüre, die auf mehreren Ebenen getätigt werden muss. Ich habe Vita nuova in der englischen Übersetzung von Mark Musa gelesen (Oxford University Press 1992/2008), und bin vom ständigen Wechsel der Bedeutungsebenen in diesem bald 750 Jahre alten Text überaus angetan.

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