The Folio Book of Science

Anthologien werden mir meistens geschenkt. So, wie diese hier: Sie war als zusätzliches Gratis-Buch meiner letzten Bestellung bei der Folio Society beigelegt. Ich hatte sie sehr wohl in ihrem Katalog gesehen, mir auch ein paar Mal überlegt, ob ich sie kaufen sollte, dann aber jedes Mal – vor allem, weil ich Anthologien eigentlich nicht besonders mag – darauf verzichtet. Wenn sie aber einfach so ins Haus flattert, lese und bespreche ich sie natürlich.

Das Buch enthält 24 Texte von ausgewiesenen, bekannten, ja berühmten Naturwissenschaftler aus verschiedensten Epochen. Ziel der Herausgeberin Alice Roberts bei der Textauswahl war nämlich Folgendes:

  • Es sollten Texte versammelt werden von Leuten, die zu ihrer Zeit und an ihrem Ort zu den Spitzen der Forschung auf dem besprochenen Gebiet gehör(t)en
  • Diese Texte sollten aber auch für den Laien im betreffenden Fachgebiet zugänglich sein
  • Was für Alice Roberts vor allem auch bedeutete: Keine Mathematik – jedenfalls keine Formeln, mathematische Konzepte allenfalls in Worten umschrieben
  • Die Texte sollten eine möglichst große historische Spannweite abdecken – idealerweise von den alten Griechen bis heute (nicht-europäische bzw. nicht-US-amerikanische Forschung ist zwar nicht explizit ausgeschlossen worden, kommt aber de facto nicht vor)
  • Die Texte mussten nicht unbedingt einen „Höhepunkt“ im betreffenden Fachgebiet beschreiben; sie sollten eher die Freude ausdrücken am Forschen als solches und die Freude daran, für ein spezifisches Problem eine Lösung gefunden zu haben
  • Last but not least sollte eine gleich große Zahl weiblicher wie männlicher Forschungspersonen berücksichtigt werden (es gab tatsächlich auch vor dem 20. Jahrhundert, immer schon, forschende Frauen – die meisten wurden aber von der männlich dominierten Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts totgeschwiegen oder zu Gehilfinnen ihrer Männer und Freunde degradiert. Diesem Aspekt der Wissenschaftsgeschichte will Roberts Abhilfe schaffen.)

Alice Roberts hat die Texte in chronologischer Reihenfolge ihres Entstehens aufgelistet. Am Ende des Buchs, in jeweils ein paar Zeilen, folgen Kurzbiografien der vorgestellten Forscherinnen und Forscher. Ganz zum Schluss die bibliografischen Angaben – leider manchmal so ungenau, dass man die Texte mühsam zusammen suchen muss, wenn man andere Übersetzungen verwendet als Roberts.

Nun aber zum Inhalt:

  • Von Aristoteles ein Ausschnitt aus seiner „Zoologie“, in dem er sich damit beschäftigt, die Tiere zunächst einmal grob nach ihrem Äußeren zu klassifizieren – was tatsächlich vor ihm keiner in diesem Ausmaß und mit dieser Präzision getan hat (keiner jedenfalls, der überliefert wurde).
  • Von Plinius aus seiner „Naturgeschichte der kurze Abschnitt aus der Mineralogie, in dem er sich mit dem Bernstein beschäftigt, die verschiedenen Mythen um seine Herkunft und Entstehung aufzählt und zum Schluss die auch heute noch gültige Antwort auf diese Fragen gibt (nur, dass er den Begriff „fossil“ nicht kennt).
  • Als nächster, ein bisschen überraschend für mich, Leonardo da Vinci mit einem Text über die in den italienischen Alpen anzutreffenden Versteinerungen von Muscheln und anderen Meerestieren, in dem Leonardo – sonst ja nicht der Naturwissenschaftler, für den man ihn so gerne hält (und für den ihn offenbar auch Roberts hält) – die korrekte (d.h.: bis heute gültige) Ansicht der Art und Weise, wie diese Muscheln da nach oben gekommen sind, vorträgt; nämlich nicht durch die Sintflut!
  • Von Robert Hooke die Beschreibung einer mikroskopierten Ameise aus seiner „Micrographia“, eine Beschreibung, die ich bei der Vorstellung des ganzen Buchs von Hooke bereits nacherzählt habe.
  • Dann mit Maria Sybilla Merian die erste Frau – natürlich mit einem Ausschnitt aus ihrer „Metamorphosis insectorum Surinamensium“, ebenfalls hier schon vorgestellt.
  • Beim Text von Émilie du Châtelet („Über die Natur des Feuers“) macht sich das Fehlen einer spezifischen Einleitung in den Text besonders schmerzlich bemerkbar. Ich glaube nicht, dass Laien das Problem verstehen können, mit dem sich Émilie du Châtelet abmüht. Eigentlich ist es sogar ein doppeltes Problem: Einerseits schlägt sie sich implizit (also, ohne sie zu erwähnen) mit der damals noch gültigen Phlogiston-Theorie der Verbrennung herum. Andererseits erörtert sie Fragen der (Thermo-)Dynamik. Hier nun wiederum lauert eine weitere wissenschaftsgeschichtliche Falle auf den Leser: Wie jede Geschichte wird auch die Wissenschaftsgeschichte von den Siegern geschrieben. Im Falle der Dynamik heißt das, dass die wissenschaftsgeschichtliche Tradition der Ablösung der cartesischen Dynamik durch diejenige Newtons beiseite schiebt, dass zumindest auf dem europäischen Kontinent (in Deutschland und in Frankreich vor allem) lange Zeit die von Leibniz entwickelte dynamische Theorie prominenter war als die Newton’sche. (Leibniz‘ Theorien hielten der empirischen Prüfung nicht stand und sind deshalb in den Orkus des Vergessens abgetaucht.) So auch im Text von Émilie du Châtelet, die sich mehr mit Leibniz als mit Newton beschäftigt. Das hätte erklärt werden müssen.
  • Auch auf Caroline Herschel sind wir schon gestoßen in unserem Blog. Vor allem auf dem Gebiet der Entdeckung und Bestimmung von Kometen war sie ihrem bedeutend berühmter gebliebenen Bruder William zu ihrer Zeit ebenbürtig.
  • Mary Somervilles On the Connexion of the Physical Sciences ist dann er erste eigentlich populärwissenschaftliche Text der Anthologie. 1834 präsentiert sie einen schönen Bogen von der Physik (einer Diskussion des Äthers) bis hin zur Geografie (wo Humboldt und Bonpland für sie noch Haushaltsnamen sind). Auch außerhalb der Wissenschaften engagierte sich Mary Somerville: Als John Stuart Mill im Parlament eine Petition einrichte, die die Gewährung des Frauenstimmrechts forderte, war Somervilles Unterschrift die erste auf dem Blatt.
  • Michael Faraday initiierte die jährlich stattfindenden Gratis-Vorlesungen der „Royal Society“. Sein Lieblingsthema war die „Chemische Geschichte einer Kerze“, die ihm erlaubte, einiges an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen seinem Publikum weiter zu geben.
  • Richard Owen prägte nicht nur das Wort „Dinosaurier“, seine Studien in vergleichender Anatomie, von denen wir hier ein Beispiel finden, haben viel zum Verständnis der biologischen Evolution beigetragen. (Andererseits glaubte er offenbar immer noch, dass diese Entwicklungen teleologisch ablaufen, dass „die Natur“ jedes Mal ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte, und an Hand dessen z.B. die Flügel einer Fledermaus konstruierte.)
  • Natürlich darf Charles Darwin nicht fehlen – hier mit dem Schluss seines Schlüsselwerks „The Origin of Species“, in dem er noch einmal seine Sicht der Evolution zusammenfasst.
  • Darwinist der ersten Stunde, hat Thomas Henry Huxley (hier mit einem Text über die Herkunft der englischen Kreidefelsen) viel dazu beigetragen, die Evolutionslehre zu verbreiten und bei Wissenschaftlern wie bei Laien akzeptabel zu machen. Daneben scheint er als erster den Begriff „Agnostizismus“ verwendet zu haben.
  • Eher in den USA bekannt ist wohl Florence Bailey, aus deren vor allem an die Jugend gerichteten Büchern über die Bestimmung von Wildvögeln hier ein Ausschnitt steht.
  • Noch nie vorher gehört hatte ich ebenfalls von J. B. S. Haldane, der im vorliegenden Text u.a. die physikalisch-physiologische Unmöglichkeit beweist der Existenz von Riesen, wie sie die Fantasy-Literatur kennt (er nimmt als Beispiel John Bunyan – aber dann war er nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch Marxist). Aldous Huxley verdankt ihm die Idee der künstlichen Uteri, in denen seine Bürger der Brave New World gezüchtet werden; Science Fiction und Wissenschaft verdanken ihm beide die Idee und den Begriff des „Klons“.
  • Die Paläontologin Winifred Goldring erzählt von der „Natur der Fossilien und den prähistorischen Epochen.
  • Rachel Carson schildert in der Einleitung zu ihrem seminalen Buch Silent Spring die fatalen Konsequenzen der menschlichen Eingriffe in die Natur, die zu jener Zeit (das Buch erschien 1962) noch mit Giften aller Art erfolgte. Sie propagiert – letztlich im Rückgriff auf Maltus‘ Bevölkerungstheorie – ein sanfteres Eingreifen, indem man den Schädlingen (aus menschlicher Sicht) Nützlingen entgegen stellt, die diese zu einem (großen) Teil vernichten. Das war für die Zeit sicher ein Fortschritt; dessen, dass ein ökologisches System nicht auf das Zusammenwirken zweier Spezies reduziert werden darf, der vermeintliche Nützling sich unter Umständen aufs Ganze gesehen als mindestens so großer Schädling entpuppt wie der ursprünglich damit bekämpfte Schädling, begann man sich erst später bewusst zu werden.
  • Richard Dawkins: Why are People? ist das Vorwort zum hier von scheichsbeutel bereits vorgestellten Buch Das egoistische Gen.
  • Ein sehr seltsamer Text ist hingegen der Folgende, Richard Feynman: The Pleasure of Finding Things Out. Eigentlich ein Interview, aus dem man die Fragen herausgeschnitten hat, ohne aber die Mündlichkeit der Antworten zu kaschieren. Interessant ist hier eher der persönliche Teil, in dem Feynman erzählt, wie er von seinem Vater dazu gebracht wurde, die richtigen Fragen zu stellen und wie er es bei seinen Kindern wiederum versuchte. (Sein Sohn sprang auf die (groß-)väterliche Methode an – die Tochter gar nicht; es lassen sich also keine Schlüsse auf eine geniale pädagogische Methode daraus ziehen.)
  • Der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould erzählt in „Hyena Myths and Realities“ über verschiedene Mythen in Zusammenhang mit eben diesen Hyänen, deren Auflösung und der Relevanz dieser Auflösung für die Wissenschaft der Evolutionsbiologie.
  • Dian Fossey in ihrer Einleitung zu „Gorillas in the Mist“ erzählt davon, wie sich ihre Anfänge bei der Beobachtung von Gorillas – zunächst noch im Kongo – gestalteten. Ein Ausschnitt ohne wissenschaftliche Relevanz, aber ich bin überzeugt, hätte ich ihn mit 12 oder 13 gelesen, wäre ich Feuer und Flamme gewesen, ebenfalls in den Urwald zu marschieren und Affen zu beobachten. (Ich habe mich unterdessen besser kennen gelernt und weiß, dass ich im Grunde meines Wesens dafür zu faul bin.)
  • Uta Frith nähert sich dem Wesen des Autismus in bester populärwissenschaftlicher Weise, indem sie dem Publikum zunächst vor Augen führt, dass nicht nur in Grimms Märchen Personen mit autistischen Zügen vorkommen, sondern auch ein Sherlock Holmes, ein Hercule Poirot oder ein Nero Wolfe welche aufweisen, vom „Pinball Wizard“ in der Rock-Oper „Tommy“ ganz zu schweigen. Auch die „Kuckuckskinder“ John Wyndhams sind – allerdings geballt auftretende – Autisten mit einer Inselbegabung. Dann wird sie ’seriöser‘ und diskutiert verschiedene historische Fälle von Findlingen mit autistischen Zügen (u.a. Kaspar Hauser), um schließlich Gründe, Zusammenhänge und eventuelle Behandlungsmethoden zu skizzieren. Es fällt auf, dass bei ihr jede Stigmatisierung der „Blessed Fools“ im positiven wie im negativen Sinn fehlt.
  • Eine weitere Stufe der Evolutionstheorie diskutiert Lynn Margulis – nämlich die Veränderung durch Symbiose. Symbiose ist für Margulis überall anzutreffen und sollte daher nicht nur in der Evolution berücksichtigt werden. Margilis ist m.W. eine Vertreterin der Gaia-Theorie, die die ganze Erde als ein riesiges symbiontisches Lebewesen betrachtet.
  • Mit Sarah Blaffer Hrdy kommt definitiv eine emanzipatorische Note in die Evolutionsbiologie. Sie kritisiert ältere Studien zur Mutterschaft bei diversen Tieren, da diese, von einer unbewussten patriarchalischen Einstellung der (männlichen!) Forscher geleitet, oft eher die (kleinbürgerliche, US-amerikanische) Welt abbildeten als die tatsächliche Welt, in der die Weibchen einer Spezies (inter-)agieren müssen.
  • Zum Schluss schildert Carolyn Porco in zwei Artikeln die nähere Zukunft der NASA bzw. deren Projekte. Die Artikel stammen aus dem Jahr 2007 und erzählen voller Hoffnung und Freude, wie die NASA wieder zurück zur bemannten Raumfahrt kehren wolle, nach dem Ende der Ära der Space Shuttles. 2020, so träumt sie, werde eine ständig besetzte Station auf dem Mond zu finden sein und eine zumindest sporadisch besetzte auf dem Mars. … Futurologen haben es nie einfach, so wenig wie Weltuntergangspropheten.

Summa summarum: einige interessante Texte, und tatsächlich ein paar Entdeckungen für mich. Dennoch ist der Schwabe in mir froh, für diese Anthologie kein Geld ausgegeben zu haben.

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