Baldassare Castiglione: Il libro del cortegiano

Zuerst eine Warnung: Wer dieses Buch lesen möchte und es in seiner Gesamtheit lesen möchte, dem sei von der deutschen Auswahl-Ausgabe im Wagenbach-Verlag abgeraten. Sie ist zwar die einzige aktuell überhaupt im Buchhandel erhältliche deutsche Version des Libro del cortegiano, aber die Kürzungen sind, wie wir im Forum feststellen mussten, nicht nachvollziehbar und betreffen oft wichtige und/oder interessante Stellen. Wer, wie ich, des Italienischen nicht genügend mächtig ist, sollte zumindest des Englischen kundig sein. In den Penguin Classics nämlich gibt es eine Übersetzung des integralen Textes, von George Bull (die ich denn auch gelesen habe).

Wir sind damals im Forum bei einer Diskussion von Schillers bzw. Herders Begriffen von Anmut und Würde auf Castiglione gestossen. Ein Diskussionsteilnehmer formulierte sein Unbehagen an den Konzeptionen der deutschen Klassiker damals so:

Das Herdersche Grazien-„Konzept“ ist hochnotpeinlich und übertrifft sogar Schillers nicht immer schlüssige Darstellung „Über Anmut und Würde“ an hohlem Geschwafel. Dabei hätten beide nur das berühmte „Il libro del cortegiano“ von Baldassare Castiglione (erschienen 1528) lesen müssen, um die eigene Hilflosigkeit zu erkennen. In diesem „Buch vom höfischen Mann“ wird grazia als Kunst der schlüssigen Selbstpräsentation eindeutig von affettazione (Ziererei, Affektiertheit, Prahlerei) unterschieden. Das ist zwar ein sehr aristokratisches Konzept und nur bedingt auf die bürgerlichen Anforderungen des späten 18. Jahrhunderts übertragbar, aber immer noch sehr viel lebensnäher und psychologisch stimmiger als das Geschraube von Schiller und Herder.

Schauen wir also Castigliones Text einmal an.

Formal orientiert sich der Italiener teils an Boccaccios Decamerone, teils an den Platonischen Dialogen. Gespräche also führt uns Castiglione vor, die sich ähnlich wie bei Boccaccio über mehrere Tage hinziehen, auch dem Spiel und der Unterhaltung dienen sollen, aber im Gegensatz zu seinem Landsmann lässt Castiglione keine Geschichten erzählen, weder ernste noch frivole. Das Thema ist im Gegenteil ein sehr seriöses – man will nämlich der Frage nachgehen, wie denn der ideale Hofmann beschaffen sein sollte. Ort der Handlung ist also der Hof von Urbino, Zeit vier aufeinander folgende Abende daselbst. Gesprächsteilnehmer sind mehr oder weniger zufällig dort versammelte Menschen beiderlei Geschlechts, Adlige wie Bürgerliche. Hintergrund des Ganzen ist der Drang, die Stellung der Italianitá in der Welt zu definieren. Gerade erst hatte die Schlacht bei Pavia (1525) die Vorherrschaft Spaniens im Stiefel besiegelt. Vor diesem Hintergrund versuchen nun die Gesprächsteilnehmer ihre Rolle als Italiener, als Adlige und als Leute von Welt zu definieren.

Nicht alle Gesprächsteilnehmer übrigens sind von Adel, und einer der Diskussionspunkte des ersten Abends ist gerade die Frage, ob Nobilität überhaupt als Voraussetzung für den Hofmann geltend gemacht werden solle. Es ist bezeichnend, dass der Vertreter des Verdienstes und nicht der Geburt, der jüngste Teilnehmer ist (seinerseits aber von Adel). Castiglione skizziert hier mit feinem Gespür einen sich anbahnenden Umbruch im Denken.

Jeder Abend ist mehr oder weniger einem Thema gewidmet. Es wird dabei so vorgegangen, dass ein Teilnehmer eine These zum Thema entwickelt und vorträgt (aus dem Stegreif, mehr oder weniger), die die andern dann zu widerlegen oder zu bestärken suchen. Das Ganze, wie gesagt, als Spiel aufgezogen, als intelligente Unterhaltung. So ist die Form gleichzeitig Teil des Inhalts, denn der Hofmann soll zwar durchaus Wert aufs Äusserliche legen, aber zugleich nicht ganz ohne Bildung dastehen. Körperliche Ertüchtigung wird sehr empfohlen, aber eigentlich nur, damit der Hofmann seine eigentliche Funktion als Krieger wahrnehmen kann. Er soll sich denn auch im Krieg durch Tapferkeit auszeichnen – aber nur, wenn sein Vorgesetzter ihn dabei beobachten kann. Selbstverständlich soll der Hofmann auch tanzen oder reiten können – aber alles in Massen. Prinzipiell ist Castigliones Bild vom Hofmann ein konservatives, ohne dass er sich allerdings allem Neuen verschliessen würde. (Die britische Idee des ‚Gentleman‘ verdankt Castiglione sehr viel, wie denn überhaupt Shakespeare und die übrigen Poeten des Goldenen, Elisabethanischen Zeitalters, die diese Idee (mit-)geformt haben, Castiglione offenbar fleissig rezepierten.)

Ähnliches gilt von der Hofdame, die einen ganzen Abend lang diskutiert wird. Zwar sind da die Diskrepanzen zwischen den einzelnen Gesprächspartnern grösser, man meint beinahe Faustschläge und Duellforderungen aus dem Text herausspüren zu können, aber selbst die grössten Befürworter einer weiblichen Emanzipation wollen die Hofdamen nur in ein weniger enges Korsett weiblicher Repräsentation am Hof stecken. (Während die Gegner ganz einfach Misogyne sind, die den Frauen alles Schlechte nachsagen.) Dass in Tat und Wahrheit der Hof von Urbino, an dem die Gespräche stattfinden, von einer oder zwei Frauen dominiert wird, wird zwar dem Leser klar – aber offenbar den Gesprächsteilnehmern nicht…

Was – ausser sozialgeschichtlichem Interesse – macht denn nun den Text auch heute noch relevant, runde 500 Jahre nach seinem Entstehen?

Da wird zum einen im zweiten Buch eine Theorie des Witzes entwickelt. (Schliesslich muss man, wenn man dem Hofmann vorschreibt, im Gespräch witzig sein zu können, auch definieren, was denn ‚Witz‘ überhaupt sei.) Das ist eine der frühesten mir bekannten Versuche, Witz zu definieren. Und, wenn wir ehrlich sein sollen, ist Sigmund Freud 400 Jahre später auch nicht weiter vorgedrungen als der Italiener der Renaissance. Der Witz ist das Unerwarte, vor allem die unerwartete Replik. Überhaupt erwartet Castiglione vom Hofmann ein grosses Sprachbewusstsein, denn eine seiner Hauptkünste soll es sein, ein nicht langweilendes Gespräch führen zu können.

Dann ist da ganz zum Schluss Pietro Bembos Hymnus an die Liebe. Bembo lässt sich zu weit mehr hinreissen, als vom Hofmann gefordert werden könnte. Mit diesem Hymnus entlässt der Autor den Leser – fast. Es folgt ein kurzer Dialog, sozusagen das Satyrspiel. (Wie überhaupt Castigliones Dialoge fein durchkomponiert sind: Immer sind auch ‚Clowns‘ mit von der Partie, die den Abend sozusagen ‚retten‘, wenn die Diskussion allzu ernsthaft oder allzu hitzig zu werden droht.)

Und da sind gewisse – wie soll ich sagen? – ‚Metadaten‘. Castiglione präsentiert seinen urbinischen Hof als Ideal eines Hofes, seine Gesprächsteilnehmer als ideale Hofleute. Er unterschlägt dabei die ihm sicher bewusste Tatsache, dass v.a. unter den Männern notorische (Tot-)Schläger und nach heutigen Begriffen äusserst zwielichtige Gestalten mitdiskutieren. Hingegen deutet er ziemlich deutlich an, dass im Zeitraum zwischen dem (fiktiven) Zeitpunkt der vier Abend-Gespräche und dem Verfassen des Buchs die meisten Gesprächsteilnehmer verstorben sind – fast alle in Kriegen oder andern Fehden, also nicht friedlich zu Hause im Bett.

Macchiavelli hat den Renaissance-Menschen, den Renaissance-Herrscher, so beschrieben wie er ist – und dafür zwar mit seinem Namen bezahlt, ist aber bis heute fast jedem Kind bekannt. Castiglione hat seinen Renaissance-Menschen schön getüncht – ist aber dafür nur noch den Spezialisten in unserm Forum bekannt 🙂 .

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