Jean de La Bruyère: Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle [Die Charaktere von Th., aus dem Griechischen übertragen, mit den Charakteren oder Sitten unseres Jahrhunderts]

Das Köpfchen eines roten Vogels mit einer Allongeperücke, wie sie zu La Bruyères Zeit Mode war. Zeichnung von Michel Otthofer. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Ursprünglich war geplant, die Charaktere des Theophrast zuerst und unabhängig von den Caractères des La Bruyère zu besprechen. Dies wäre aber ganz klar gegen die Intention des Franzosen gegangen, die sich schon am Titel dieses Buchs ablesen lässt. 17 Jahre soll La Bruyère an den Caractères gearbeitet haben, bevor er sie zusammen mit seiner Übersetzung der Charaktere des Theophrast 1688 zum ersten Mal – ohne Nennung seines Namens – veröffentlichte: die Charaktere des Theophrast gefolgt von 420 seiner eigenen. Das Buch war ein sofortiger Erfolg, Neuauflagen wurden noch im selben Jahr nötig, und bis an La Bruyères Lebensende wurden es acht Auflagen (eine neunte, noch von ihm redigierte, erschien wenige Tage nach seinem Tod 1696). Immer wieder ergänzte der Franzose seine Caractères, so dass wir in der Ausgabe letzter Hand schließlich deren rund 1‘200 finden. Bis hin zur 5. Auflage, wenn ich mich recht erinnere, ließ La Bruyère seine eigenen Beiträge in kleinerer Schrift setzen als die Theophrasts – so den Zusatzcharakter seiner eigenen Arbeit betonend. Als er später darauf, wie auf die anonyme Veröffentlichung verzichtete, behielt er doch immer noch den ursprünglichen Titel bei.

Das war wohl überlegte Taktik, ebenso wie das lateinisch gehaltene Motto aus einer Schrift des Erasmus von Rotterdam, mit der La Bruyère seine Abstammung von der Gelehrsamkeit der Humanisten festhielt – einerseits als Übersetzer, andererseits auch in poetologischer Hinsicht. Nämlich: Das ausgehende 17. Jahrhundert war in Frankreich das Zeitalter, in dem die Mitglieder der Académie française jenen „Streit der Alten und der Neuen“ austrugen, der so typisch französisch ist, dass wir auf Deutsch nicht einmal einen Begriff dafür haben, sondern ebenfalls von der Querelle des Anciens et des Modernes sprechen. Kurz gesagt ging es dabei darum, dass die „Neuen“ der Meinung waren, bei allem Respekt vor der Antike hätte das Zeitalter von Louis XIV unterdessen eine kulturelle Höhe erreicht, die derjenigen der (griechischen) Antike äquivalent sei und man (= die Kulturschaffenden, allen voran die Schriftsteller (es waren praktisch nur Männer)) darauf verzichten könne, die Antike immer wieder als Maßstab und Vorlage zu verwenden. Wortführer der „Neuen“ war Charles Perrault (deren einziger heute noch bekannter Autor), auf der Seite der „Alten“ aber finden wir die übrigen bekannten Autoren jener Epoche – Racine, La Fontaine, Fénelon und eben auch La Bruyère. Ihm den gewünschten Bezug auf Theophrast wegzunehmen, hätte also bedeutet, die Intention seines Werks gründlich zu verfälschen.

Dabei war das Risiko, das La Bruyère mit seiner Mischform einging, groß. In wenigen Sätzen (kaum ein Charakter braucht zu seiner Beschreibung mehr als zwei Seiten in meiner Ausgabe) stellt Theophrast eine ethisch-moralische Schwäche vor die Augen der Lesenden. Man spürt förmlich die naturphilosophische Vorbildung des alten Griechen, der nicht nur als dessen Meisterschüler zum Nachfolger des Aristoteles in der Führung der peripatetischen Schule wurde, sondern (als praktisch einziger Peripatetiker) auch noch des Aristoteles naturphilosophische Neigung und Begabung ‚geerbt‘ hatte. Man spürt natürlich auch, dass er sich an die Ethik seines Meisters anlehnt, da er im Prinzip immer für das gesunden Mittelmaß in allem Tun und Lassen plädiert. Dass Theophrast sogar als Satiriker bestehen kann, zeigen seine Charaktere ebenfalls.

Auch La Bruyère war ein Gelehrter, aber kein Naturwissenschaftler. Die aktuellen Messungen der Größen und Distanzen der Planeten unseres Sonnensystem, Astronomie also, zieht er nur bei, um in den Lesenden eine Ehrfurcht vor der Größe des von Gott geschaffenen Alls hervorzurufen. Als ‚Précepteur‘ (Prinzenerzieher) in einer Nebenlinie des königlichen Hauses kannte er die höfischen Rituale und Typen sehr genau, war aber meiner Meinung nach zu tief selber darin verwickelt, um sie wirklich mit der nötigen Distanz schildern zu können. Um ja nirgends anzuecken, wird er jedes Mal, wenn er einen Caractère (z.B. den dévot, den Frommen) mit nur einem Substantiv bezeichnet, in einer Fußnote präzisieren: faux dévot, ein falscher Frommer, ein Simulant. So darf jeder fromme Leser, jede fromme Leserin sich natürlich auf der sicheren Seite fühlen. Wohl gelingen auch La Bruyère hin und wieder wunderhübsche satirische Aphorismen, aber das sind winzige Goldkörner in einem Haufen Geröll. Nahezu unerträglich aber sind seine ‚Gottesbeweise‘, die auf ein ‚Ich fühle Gott, also gibt es ihn‘ herauslaufen (zugegeben: Pascal, auf den La Bruyère auch einmal Bezug nimmt, argumentiert in seinen Pensées im Grunde genommen genau gleich, ebenso Descartes – aber einem Theophrast wäre so etwas nie durchgerutscht). La Bruyères Bemerkungen über die Frauen können allenfalls entschuldigt werden dadurch, dass er hier nur die vermeintlich komischen Gemeinplätze seiner Zeit wiederholt.

André Gide schrieb zu den Caractères einmal: « Je relis Les Caractères de La Bruyère. Si claire est l’eau de ces bassins, qu’il faut se pencher longtemps au-dessus pour en comprendre la profondeur. » Auf Deutsch (meine Übersetzung): Das Wasser in diesem Teich ist so klar, dass man sich lange darüber beugen muss, um dessen Tiefe zu erfassen – vielleicht habe ich mich wirklich zu wenig lange über La Bruyères Caractères gebeugt. Baudelaire und Proust bewunderten beide Lebendigkeit und Emotionalität von La Bruyères Einbildungskraft, Voltaire seinen malerischen Stil. Tatsächlich gibt es Stellen in den Caractères, in denen man glaubt, die Schilderung eines Landschaftsbilds jener Zeit zu lesen. Auch sein Stil ist bewundernswert: La Bruyère schreibt eine melodiöse, rhythmische Prosa, die selbst längere Sätze ertragbar und leicht lesbar macht. (Ich bin nicht der einzige, der sicher ist, dass Proust hierin sehr viel von ihm gelernt hat.)

Es braucht Geduld – und eine Goldwaschpfanne, wenn man heute noch La Bruyères Caractères lesen will. In der französischen Literatur gilt er nach wie vor als Klassiker, und französische Autoren wurzeln bis heute in jenen Autoren des ausgehenden 17., beginnenden 18. Jahrhunderts, der Zeit des Sonnenkönigs – also auch in den Caractères des Jean de La Bruyère.

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