Michael Weingarten: Sterben (bioethisch)

Ein mehr als seltsames Buch, das meine Erwartungen (die von der Tatsache, dass es sich bei dem Autor um einen Biologen und Philosophen handelt, geprägt waren) so ganz und gar nicht erfüllt hat. Das allein müsste nun kein negatives Urteil nach sich ziehen (siehe hier), im vorliegenden Fall aber kann man doch von einer mittleren Katastrophe sprechen. Vielleicht hätte mich schon der Titel der Schriftenreihe „Bibliothek dialektischer Grundbegriffe“ stutzig machen sollen, aber aus einem mir nicht mehr erinnerlichen Grund hatte ich von Weingarten eine gute Meinung.

Er beginnt seine Ausführungen mit einem Zitat Robert Walsers: „Wenn schon gestorben sein soll, dann sterbe ich lieber gern als ungern.“ Ein Satz, der eigentlich kaum interpretatorische Probleme bereiten sollte, sofern der geneigte Leser diese sich nicht selbst bereitet. (Den Satz habe ich am angegebenen Ort im übrigen nicht gefunden; ob es an einer Ungenauigkeit von seiten des Autors oder aber an den jeweiligen Ausgaben („Sämtliche Werke“ müssen nicht das „Gesamtwerk“ sein, auch wenn Jahr, Ort und Verlag übereinstimmen) vermag ich nicht zu beurteilen.) Weingarten macht daraus philosophisch Anspruchsvolles, er sieht darin einen aristotelischen Syllogismus im Sinne des „Alles Menschen sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch …“ und bezieht sich im besonderen auf „soll“ (das er einem zu erwartenden „muss“ gegenüberstellt). Deshalb hätte mich auch der Kontext des Walsersatzes interessiert: Dieser hat für mich etwas Resignatives, vielleicht Ironisches, als ob da eine Unterhandlung mit dem Tod stattgefunden und er sich schließlich der Argumentation dieses personifizierten Todes angeschlossen hätte. Mit dem Zusatz, dass, wenn es denn schon sein soll, er dieses Sterben lieber bei guter Laune zu vollbringen wünscht und nicht in Verzweiflung.

Wie auch immer – schon diese ersten Ausführungen haben etwas gesucht philosophisch Exklusives, etwas Abgehobenes: So entblödet sich Weingarten nicht, in diesem Zusammenhang von der „Brüchigkeit des modus ponens“ zu sprechen. Dann bemüht er Derrida, der historische Werke, die sich dem Thema Tod widmen (etwa Ariès‘ „Geschichte des Todes“) dahingehend kritisiert, dass sie sich dem „Warum“, dem „Was“ des Todes, den Fragen nach Bedeutung und Sinn des Todes etc. nicht widmen bzw. dass sie diese Fragen als bereits gelöst unterstellen. Was im Falle von Ariès‘ Unsinn in doppelter Hinsicht ist: Zum einen antwortet er sehr wohl auf diese Fragen im historischen Kontext, zum anderen ist ihm – als Historiker – an einer philosophisch-semantischen Analyse des Begriffes Tod einfach nicht gelegen. Dass diese Analyse grundlegend und notwendig wäre für eine solche Arbeit (wie Derrida unterstellt) ist einfach Nonsens: Bei allem Interesse an genauen Definitionen und Abgrenzungen sind solche für eine mentalitätsgeschichtliche Abhandlung mitnichten notwendig. Hier scheint der „Common-sense-Begriff“ von Sterben und Tod vollkommen ausreichend.

Zwischen diesen eigentümlichen Exkursen (die dann solche nicht mehr sind sondern den Hauptinhalt darstellen) wird die relativ simple Konzeption des Sterbens bei Weingarten sichtbar: Das Leben, ob es nun ein geglücktes oder misslungenes ist, lässt sich immer nur von seinem Endpunkt aus beurteilen, würde es (wie etwa in einer Autobiographie) nach diesem Resümee noch andauern, könnte diese Beurteilung eine Änderung erfahren. So weit, so wahr, keinesfalls aber eine Erkenntnis, die das Schreiben eines Büchleins erfordern würde.

Die Bezüge zwischen Philosophen und Literaten, die sich dem Thema Sterben in irgendeiner Form widmen, werden immer weiter ausgesponnen: So wird Blochs „Roter Held“ bemüht, der kommunistische Mensch der Zukunft, der das Sterben durch das Aufgehen in der kommunistischen Gemeinschaft überwindet und dadurch diesem eigentlich individuellen Schicksal zu entgehen vermag. Allerdings ist dieser „Rote Held“ Blochscher Provenienz nicht nur in Bezug auf das Sterben, sondern in jedweder philosophischer Hinsicht von einer großartigen Belanglosigkeit, sodass man sich verwundert die Augen reibt, wenn Weingarten diesem Typus eine Seite um die andere widment (obschon er schließlich zum – auch für ihn wenig erquicklichen – Schluss kommt, dass die Blochsche Unsterblichkeit nur unter Verzicht auf jegliche Individualität verwirklicht werden könne).

Der Sprung zu Rilke ist von einer gewissen Logik: Wem wollte angesichts des kollektiven Sterbens bei Bloch nicht der individuelle Tod des alten Kammerherrn Brigge einfallen, der noch seinen ganz eigenen Tod zu sterben imstande war. Weingarten aber hat es ein anderer Satz aus dem Malte Laurids Brigge angetan: Jener über das „fabriksmäßige Sterben in unseren Krankenhäusern“. In freier Assoziation fällt ihm dazu – Hannah Arendt ein und ihre Unterscheidung zwischen „labour“ und „work“ (jenes die mechanische Tätigkeit, dieses das „Herstellen“ im Sinne des Handwerkers). Und er schließt daraus, dass Rilke „dann unter der Arbeit des Sterbenden nicht das fabriksmäßige, serielle und standardisierte Tun (Arbeit als labour), sondern eher das handwerkliche Tun versteht, weil dieses zumindest die Möglichkeit enthält, das je eigene Tun des Sterbens als indivduellen und einmaligen Vollzug zu begreifen und vollziehen zu können.* Allerdings wird sich Weingarten beim Weiterschreiben dessen bewusst, dass Arendt in ihrem Buch „Vita activa“ vor allem vom Handeln spricht bzw. dieses Handeln in Bezug zu labour und work setzt. Und es geht in ihrem Buch um das Sterben nur am Rande: Labour sichert das Überleben, work schafft eine künstliche Welt, das Handeln aber macht den Menschen als politisches (zoon politikon) und gesellschaftliches Wesen aus. Für Weingarten bedeutet das, dass Arendt Sterben und Sterblichkeit von der Natalität aus begreift.

Diese Form des freien Assoziierens hält Weingarten bis zum Schluss durch (Helmuth Plessners Werk wird immer wieder als Bezugspunkt gewählt). Und so bleibt auch das Fazit dieses „bioethischen Sterbens“ einigermaßen dunkel (oder aber banal – je nach Sichtweise): „Worin besteht nun die Besonderheit der Vollzugsform des Sterbens im Unterschied zu anderen Tätigkeiten. Wie jedes körperhabende Lebewesen ist auch der einzelne Mensch als Körperhabender begrenzt, indem er seine räumliche Grenze hat.“ (Hervorhebung durch Weingarten) Ich weiß in solchen Fällen nicht, wie ich mir ein nicht körperhabendes Lebewesen vorstellen soll, weshalb das Nachfolgende über die „Grenzen“ und die „Begrenzheiten“ etwas Triviales an sich hat. „Das Grenzehaben und nicht einfach das Begrenztsein bestimmt Plessner als Positionalität“. Und nun kommt Plessner selbst zu Wort: „Seiende Grenze heißt Werden. Durch die Bestimmung des Richtungsgegensatzes ist das Werden notwendigerweise ein doppeltgerichtetes, ein Werden über den Körper hinaus und in den Körper hinein. Aus dieser Abhebung von ihm selber ist der Körper in seiner Begrenzung ein in ihm hinein, aus ihm heraus gesetzter, steht er außerhalb und innerhalb seiner.“ Weingarten fügt dieser räumlichen Grenze nun auch noch eine zeitliche hinzu, die eine „aufschließend-(übersich hinaus in sich hinein)-abschließende Funktion“ hat. Und weiter: „Die abschließende Funktion, die jeder Grenze auch eignet, kann zum einen als Begrenzung angesprochen werden, zum anderen als Schranke oder Beschränkung.“ (Hervorhebung durch Weingarten) Usf. In welcher Weise ich diese Ausführungen für die bioethische Bedeutung des Sterbens für mich fruchtbar machen kann, blieb mir leider zu erkennen verwehrt. Wahrscheinlich wird derlei für klug gehalten – und derjenige, der solchen Tiefsinnigkeiten abhold ist, der Ignoranz geziehen. Ich glaube damit leben zu können, müssen, sollen. Ohne modus ponens.


*) Ich vermute, dass der Rilke-Satz genau so nicht zu verstehen ist. Gerade das Farbriksmäßige weist auf „labour“ hin; davon unabhängig ist, wie Rilke (bzw. der Erzähler im Buch) das Sterben sich idealiter vorgestellt hat (wohl eher im Sinne des großen Handwerks des alten Kammerherrn).