Ganz klar ist nicht, wer die Zielgruppe dieses Buches ist: Denn für einen Nichtmathematiker ist das teilweise recht starker Tobak. Den „ausgewählten Themen“ – so eine Kapitelüberschrift – in alle ihre Verzweigungen zu folgen ist nicht wirklich einfach, die Erklärungen sind für diejenigen, die nicht vom Fach sind, ein wenig zu kurz ausgefallen (und selbst Mathematiker haben mir auf Anfrage nicht immer Auskunft geben können). Das wird hingegen kompensiert durch einige wirklich gelungene Darstellungen (das Kapitel „Lehren und Lernen“ ist ganz ausgezeichnet, die Autoren lehnen sich dabei an das Konzept von Georg Pòlya an) bzw. durch Themenbereiche, die man in vielen anderen, vergleichbaren Büchern vergeblich sucht: Etwa die Analyse des Fehlbarkeitskonzeptes von Imre Lakatos in der Mathematik.
In all den verschiedenen Kapiteln wird immer wieder auf das gegen Ende des 19. Jahrhunderts zutage getretene Grundlagenproblem zurückgegriffen, auf die Konzepte des Platonismus, des Formalismus (Hilbertscher Prägung) und des Konstruktivismus (Brouwer). Während der Platonist von existierenden mathematischen Objekten ausgeht, die darauf warten, „gefunden“ zu werden (Gödel hat sich zu dieser Auffassung bekannt), befreit der Formalist die Mathematik von jedem inhaltlichen Bezug und sieht eine möglicherweise doch bestehende Verbindung als zufällig und keineswegs notwendig an. (Diesem Hilbertschen Programm der Metamathematik hat bekanntlich Gödel den Garaus gemacht, indem er die Unvollständigkeit logischer Systeme, die stark genug sind, die Arithmetik einzuschließen, dadurch gezeigt hat, dass in ihnen die eigenen Widerspruchsfreiheit nicht bewiesen werden kann).
Wieder andere Spuren hat Brouwer mit seinem konstruktivistischen Ansatz verfolgt (der nicht von ungefähr an Husserl bzw. die Erlanger Schule erinnert). Ausgehend vom einfachen Zahlenbegriff wird von dieser Richtung nur das anerkannt, was aus diesem Zahlenbegriff abgeleitet werden kann (weshalb etwa Cantors Unendlichkeiten, von Hilbert hochgeschätzt, abgelehnt werden). Eigenartigerweise scheinen diese philosophischen Standpunkte auf die „Tagesarbeit“ des Mathematikers wenig Einfluss zu haben (einem gängigen Bonmot nach sind die Mathematiker an Werktagen Platonisten, sonntags hingegen Formalisten, während Konstruktivisten überhaupt eine sehr seltene Spezies darstellen). Allen diesen Theorien ist der Versuch gemeinsam, ein absolut zuverlässiges, Gewissheit anstrebendes System zu konstruieren, allerdings waren alle diese Versuche – aus unterschiedlichsten Gründen – zum Scheitern verurteilt. Den Logizisten (Russel, Whitehead) machte – wie erwähnt – Gödel einen Strich durch die Rechnung, wobei das Hilbertsche Programm schon als eine Reaktion auf die Versuche von Brouwer und Weyl, alle mathematischen Objekte aus aus endlich vielen Schritten zu konstruieren, verstanden werden muss. Zugrunde liegt diesen Bemühungen der von den Autoren sogenannte „Euklid-Mythos“ über die klaren und unbezweifelhaften Wahrheiten der Mathematik (denen auch Lakatos‘ Angriff gegolten hat). Offensichtlich sind wir auch hier nicht in der Lage, endgültige Gewissheiten zu erreichen, die absolute Wahrheit scheint selbst in der Mathematik eine Schimäre zu bleiben.
Diese philosophischen Grundüberlegungen liegen den Ausführungen zum mathematischen Beweis, zur Geschichte oder zum Symbolismus in der Mathematik, zu Abstraktions- und Ordnungsüberlegungen zugrunde und sind – von den erwähnten fachspezifischen Schwierigkeiten abgesehen – wunderbar zu lesen. Ein einziger Abschnitt (jener über das „Funktionieren der Mathematik“) schien mir wenig überzeugend, aber das fällt bei einem Buch mit diesem Umfang kaum ins Gewicht. Ansonsten spannend, anregend, faszinierend.
Philip J. Davis, Reuben Hersh: Erfahrung Mathematik. Basel: Birkhäuser 1985.