Hugo Schwaller muss ungefähr zur gleichen Zeit wie ich die gleiche Universität besucht haben, was erklären könnte, warum mir sein Name so bekannt vorkommt. Allerdings sagt mir sein Gesicht nichts; normalerweise ist es bei mir umgekehrt: Ich weiß, dass ich einen Menschen schon einmal getroffen habe, wenn ich sein Gesicht sehe – an einen Namen erinnere ich mich jeweils kaum. Schwaller hat Anglistik studiert, ich nicht, wir haben uns also nicht unbedingt häufig getroffen. Ich hatte aber damals eine Anglistin als Freundin, es könnte sich um eine Bekanntschaft über die Bande gehandelt haben.
Wie dem auch ist: Später muss Schwaller eine Zeitlang in Lucca gewohnt haben, jener Stadt in der Toskana, in der sich auch Michel de Montaigne während seiner großen Bade- und Italienreise nicht weniger als vier Mal aufhielt und so dort insgesamt 32 Tage verbrachte, wie Schwaller nachrechnet. Nur in Rom hat er noch mehr Zeit verbracht auf dieser Reise. Lucca, kleiner als seine Heimatstadt Bordeaux, muss Montaigne, vermute ich, deshalb so gut gefallen haben, weil er hier, anders als in Rom, als die wichtige Persönlichkeit wahrgenommen wurde, als die er sich fühlte. Er wohnte in den Stadthäusern der angesehensten Bürger Luccas. (Die waren zu jener Zeit, 1581, natürlich nicht Bürgerliche sondern von Adel – und dem Adel fühlte Montaigne sich wohl von Geburt an zugehörig.)
Wir haben in diesem dünnen Büchlein (insgesamt keine 100 Seiten in einem etwas grösseren Taschenbuchformat, großzügig gesetzt und illustriert) so etwas wie eine kommentierte Lektüre der Passagen aus Montaignes Reisetagebuch vor uns, die Lucca betreffen. Schwaller vergleicht Montaignes Einträge mit historischen Werken über Lucca, aber auch mit dem Reisetagebuch des Johann Caspar Goethe. Auch Goethes Vater nämlich hat sich auf seiner Italienreise (einige Zeit nach Montaigne) ein paar Tage in Lucca aufgehalten und sich dort Notizen gemacht – Notizen, die zeigen, dass sich allzu viel in der Zwischenzeit noch nicht verändert hatte. Bei den Illustrationen des vorliegenden Buchs handelt es sich meist um Aquarelle der Künstlerin Sandra Colla, die auf ihre Weise die farbenfrohen südländischen Landschaften vor Augen führen. Im Übrigen fehlen Anmerkungen und ein Literaturverzeichnis eben so wenig.
Interessant ist es allemal, die verschiedenen Möglichkeiten zu vergleichen, wie Montaignes Taten interpretiert werden können. Nehmen wir das Beispiel der Heimreise, nachdem Montaigne erfahren hatte, dass er zum Bürgermeister der Stadt Bordeaux gewählt worden war. Während Volker Reinhardt der Ansicht ist, dass Montaigne es keineswegs eilig hatte, ja unterwegs noch absichtlich trödelte (was er aus den kurzen Distanzen schließt, die die Reisegesellschaft jeweils pro Tag zurücklegte), schließt Schwaller aus dem Umstand, dass bei Montaignes letztem, kurzen Besuch in Lucca, bereits auf dem Heimweg, kaum ein nennenswerter Eintrag erfolgte, dass es Montaigne ziemlich eilig gehabt habe, sein Amt anzutreten. Ich fürchte, Montaignes wirkliche Intentionen werden uns in vielen Fällen für immer schleierhaft bleiben. (Und ja: Ich weiß, dass meine Vermutung weiter oben, Montaigne habe sich in Lucca so wohl gefühlt, weil er hier als jemand galt, genau das ist – eine Vermutung. Eine bösartige sogar.)
Nicht unbedingt ein Büchlein, das man gelesen haben muss, aber wer es liest und Montaigne mag (wie ich), wird dessen Lektüre auch nicht bedauern. Es ist in einem Kleinstverlag erschienen, aber über den Buchhandel erhältlich:
Hugo Schwaller: Michel de Montaigne in Lucca (1581). Illustrationen von Sandra Colla. Dozwil TG: Edition Signatur, 2. [um einen kurzen Bericht über die ehemalige Schweizer Palastwache in Lucca] erweiterte Ausgabe 2023.