Conrad Ferdinand Meyer: Der Schuß von der Kanzel

Eigentlich hatte ich die Absicht, eine Vorstellung dieser Novelle von Conrad Ferdinand Meyer relativ rasch auf die jenes Pastiches folgen zu lassen, das Hermann Burger unter dem Titel Der Schuss auf die Kanzel veröffentlicht hat. Doch erst kam anderes dazwischen, dann habe ich es zwischenzeitlich auch vergessen. Nun aber hat sich der Text gerade so schön angeboten.

Wie schon bei der Besprechung von Burgers Erzählung festgehalten, gibt es wenig Parallelen zwischen seinem Text und dem Meyers. Persönliche Reminiszenzen Burgers an seine Zeit in einem Pfarrhaus im Ortsteil Kirchberg von Küttigen stehen dem Wohnort C. F. Meyers (Kilchberg am Zürichsee) gegenüber. Dann ist da noch der Umstand, dass ein Pfarrer einer der Protagonisten von Meyers Novelle ist und dessen Pfarrhaus einer der Handlungsorte. Damit hat es sich aber schon.

Meyers Novelle nämlich ist keineswegs düster und erschossen wird auch niemand. Sie ist im Gegenteil ihrerseits schon fast wieder ein Pastiche zu nennen – nämlich der Novellen seines Landsmanns Gottfried Keller. Es herrscht hier – ungewöhnlich für Meyer – derselbe heitere und humoristische Ton wie bei Keller, und auch die Figuren und ihre Führung könnten von Keller stammen. Allerdings verleugnet Meyer seine eigenen Qualitäten keineswegs. Die Sprache ist knapp ohne minimalistisch zu sein, die Handlung auf das absolut Notwendige reduziert.

Ich brauche diese Handlung hier nicht zu wiederholen, denke ich. Nur auf eine kleine Pointe am Ende möchte ich hinweisen. Es wird dort bekanntlich den Einwohnern von Mythikon eingeschärft, der pfarrherrliche Schuss von der Kanzel solle als nicht stattgefunden behandelt werden. Das führt nun zu einem witzigen Spiel mit Realität und Fiktion, das Meyer mit uns durchexerziert, indem er seine Figuren als Vergleich Tells Schuss auf den Apfel anführen lässt. Der nämlich sei in aller Munde, der Schuss von der Kanzel aber solle in niemandes Mund sein. Aus Sicht der handelnden Personen heißt das, dass ein fiktiver Schuss weiter erzählt wird, wie wenn er ein realer gewesen wäre, während der reale Schuss ins Irreal-Fiktive gedrängt wird. Als (uninstruiert) Lesende sehen wir, dass der (im Rahmen der Handlung) reale Schuss gerade eben nicht verschwiegen worden ist – wir erfahren ja davon. Wir erfahren die Realität aber als Fiktion – die Geschichte hat so nie stattgefunden. Als instruiert Lesende – also noch eine Ebene höher – wissen wir, dass der Schuss von der Kanzel tatsächlich stattfand: Der Heidelberger Pfarrer Christoph Schmezer (1800-1882), den man den flottesten Pfarrherrn nannte, hat nach einer offenbar wahren Anekdote einmal während einer Predigt auf der Kanzel einen Schuss aus einer Kinderpistole abgefeuert – einem Geschenk eigentlich für seinen Sohn. Nun, es hat seiner Karriere offenbar so wenig geschadet wie seinem fiktiven Mythikoner Kollegen.

Heiter und humorvoll, aber in seiner Konstruktion durchaus verzwickt – eine Leseempfehlung.

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