Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit

Es bereitet mir gerade etwas Mühe, viel Gescheites zu diesem Buch zu sagen. Richard Saages Politische Utopien der Neuzeit ist 1990 zum ersten Mal erschienen. (Es gibt eine zweite Auflage aus dem Jahr 2000; dort wurde aber meines Wissens nur das Vorwort erweitert mit ein paar Antworten auf die Kritiken am Buch. Vor mir liegt die erste Auflage.) Es ist also unterdessen 30 Jahre alt, und ich weiß nicht einmal, wie weit die darin präsentierten Resultate noch aktuell sind. Außerdem ist es mir unter dem Lesen immer wieder passiert, dass ich mir sagte: „Aber das ist doch klar! Das weiß man doch!“, und mir dann jedes Mal in Erinnerung rufen musste, sowohl, dass das Buch ja eben gerade nicht neu ist, wie auch, dass ich es ja nicht zum ersten Mal gelesen habe, und wahrscheinlich vieles von dem, was Saage hier schreibt, beim damaligen Lesen sich in meine eigenen Ansichten zum Thema „Utopie“ bwz. „utopische Literatur“ integriert hat. Ich werde mich deshalb hier mit einer Art Inhaltsangabe / Zusammenfassung des Buchs begnügen.

Saages Buch besteht – außer einer Einleitung und den Abschließende[n] Bemerkungen – aus vier Kapiteln, die chronologisch die bekanntesten Utopien der Literatur- und Philosophiegeschichte vorstellen, interpretieren und in größere politische und ökonomische Zusammenhänge innerhalb und außerhalb von Büchern einordnen. Die vier Zeitabschnitte, in die Saage seine Utopie-Geschichte gliedert sind:

  • Renaissance und Reformation
  • Absolutismus und Aufklärung
  • Der „technische Staat“ in der industriellen Revolution
  • Vollendung der utopischen Moderne → postmaterielle Utopien

Unter Renaissance versteht Saage offenbar auch den Humanismus – ein Wort, das er seinerseits nicht verwendet. Absolutismus und Aufklärung sind – anders als Renaissance und Reformation – nicht komplementär gemeint, sondern als Gegensätze: die aufklärerische Utopie fand statt im Zeitalter des von Louis XIV initiierten Absolutismus und war prinzipiell gegen diese Staatsform gerichtet. Der darauf folgende Abschnitt behandelt das ausgehende 18. und das beginnende 19. Jahrhundert (wobei Saage die zu dieser Zeit stattfindende Abspaltung einer rein auf den technischen Fortschritt konzentrierten Science Fiction von der eigentlichen Utopie nur kurz anspricht). In dieser Epoche übernimmt die Wissenschaft, übernehmen die Wissenschaftler die Rolle der mythischen Gründungsväter des utopischen Staates. Das impliziert auch eine zielgerichtete Vorstellung des technischen Fortschritts (wie sie ja schon im Wort „Fortschritt“ steckt). Zielgerichteter technischer Fortschritt hieß fürs 19. Jahrhundert auch zielgerichteter sozialer Fortschritt – mit anderen Worten: Die (soziale) Entwicklung der Menschheit schien berechen- und vorhersagbar. Dies galt auch für Kommunisten und Sozialisten – obwohl Marx wie Engels, und auch Lenin, utopischen Schriften gegenüber negativ eingestellt waren. Sie gehörten zu den ersten, bei denen das Wort „utopisch“ gleich gesetzt wurde mit unerreichbaren, sinnlosen Zielen, die nur für Träumer sind. Die Vollendung der utopischen Moderne wird für Saage durch die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehenden dystopischen Romane vorgestellt. Unter postmateriellen Utopien versteht er, dass (bei aller Abkehr von der, was die Entwicklung der Menschheit betrifft: pessimistischen, Dystopie) dennoch keine Rückkehr zum Optimismus der vorher gehenden Epochen erfolgt, sondern sich die Autorinnen und Autoren nicht mehr auf reine Optimierung von Luxus und Technik kaprizieren, statt dessen ökologische Aspekte mit einbeziehen, was zum Bild der Utopie der späten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt. (Das 21. Jahrhundert fehlt logischerweise in Saages Darstellung.)

Sozusagen quer dazu werden in allen Epochen bestimmte Themen dargestellt:

  • die Ökonomie in Form der Ressourcen-Knappheit der vorindustriellen Epochen, die machte, dass die damaligen Utopien eine strenge Arbeitsethik kannten – auch wenn sie nicht mehr 12- und mehrstündige Arbeitstage vorsahen, etwas das mit dem Aufkommen der Maschinen wegfiel und zunächst zu einer wahren Euphorie auch und gerade linksgerichteter Utopisten führte, die die Maschine als Mittel sahen, dem Menschen die Zeit zu besorgen für seine eigentliche Verwirklichung, was dann im 20. Jahrhundert wieder als Bedrohung empfunden wurde und in dessen zweiter Hälfte nur noch unter Vorbehalt verwendet wird. Aber auch der Umstand, dass – vor allem in der Frühzeit – viele utopische Staaten im Grunde genommen nur existieren können, weil sie in der einen oder anderen Form auf Sklavenarbeit beruhen.
  • die Erziehung, die jeweils macht, dass man obige Bedingungen freudig akzeptiert, bzw. die in den Dystopien des 20. Jahrhunderts bewirkt, dass sich der im Grunde genommen unmenschlichen Bedingungen diktatorischer Staaten gar nicht erst bewusst wird – und dann nicht mehr Erziehung ist, sondern Konditionierung oder noch tiefer gehende Eingriffe ins menschliche Hirn notwendig macht
  • die politischen Systeme, in denen die Utopien verwirklicht werden sollten (und bei denen moderne, westliche Demokratien im europäischen Sinn interessanterweise kaum eine Rolle spielen – allenfalls finden wir ‘basisdemokratische’ oder anarchistische Regierungsformen im Sinne nebeneinander existierender und kooperierender Genossenschaften, wie sie Bakunin gefordert hat)
  • daraus folgend die jeweilige ‘Selbstverwirklichung’ des Individuums – von einer praktisch vollständigen Aufgabe jeder Individualität in den humanistischen Utopien, die zum Teil in der Aufklärung weitergeführt wurde, zum Teil aber aufs Extremste gesteigert wurde – dies gern im Rückgriff auf ‘primitive’ Gesellschaften wie man sie zu der Zeit in Tahiti oder bei den Huronen gefunden zu haben glaubte, wo – wie man in Europa glaubte – der ‘edle Wilde’ in einem herrschafts- und zwangsfreien Raum lebt. Später glaubte man, diesen Zustand (re-)produzieren zu können mit Hilfe der Maschine. Als die dann zum Teufelszeug erklärt wurde, war ‘Selbstverwirklichung’ allenfalls als von außen aufgedrückte Illusion zu finden. Erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erhob diese ‘Selbstverwirklichung’ wieder zu einer utopischen Möglichkeit – allerdings mit ökonomisch-ökologischen Begrenzungen durch die nun wieder festgestellte Ressourcen-Knappheit
  • daraus wiederum folgend die Rolle der Frau: von einer zwar ökonomisch gleichgestellten Person (in den frühen Utopien konnte es sich die utopische Gesellschaft nicht leisten, deren Arbeitskraft brach liegen zu lassen!), die aber im stillschweigend vorausgesetzten Patriarchat politisch-gesellschaftlich dem Mann untergeordnet blieb, über mehr oder weniger große ‘echte’ Gleichberechtigung (in der Aufklärung vor allem wieder im paradiesischen Urzustand der Unschuld des ‘edlen Wilden’), im 20. Jahrhundert dann eine im Guten wie im Schlechten (in Utopien wie in Dystopien) Äquivalenz der Geschlechter
  • als weitere Konsequenz des Obigen die Rolle der Sexualität und Fortpflanzung, die von eugenischen Maßnahmen bis hin zu absoluter Freiheit reicht. Auch wird bei den einen die monogame Ehe propagiert, bei anderen die Promiskuität (mindestens bestimmter Kreise des utopischen Staats), bei noch anderen Mischformen.

Im Hintergrund aller Diskussion steht – seit der Renaissance, seit Thomas Morus das Genre ‘Utopie’ „erfunden“ hat – natürlich die Staatsphilosophie Platons. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts geht dieser Zusammenhang mit der antiken Philosophie verloren – wohl im Zuge dessen, dass die Antike generell weniger Wichtigkeit im philosophischen Denken der Zeit einnimmt. Überhaupt weniger Wichtigkeit einnimmt.

Saages ist informativ und stellt eine gute Einführung in die Geschichte utopischen Denkens und Schreibens dar.


Folgende Autoren / Werke werden mehr oder weniger intensiv dargestellt (‘mehr oder weniger’, weil – außer im Kapitel, das auch den Begriff Reformation beinhaltet – die utopischen Entwürfe der Reformation keine große Rolle mehr spielen, anders als die der Humanisten, allen voran natürlich der des Thomas Morus, der neben Platons Staat paradigmatisch verwendet wird):

Renaissance und Reformation

  • Johann Valentin Andraeae: Christianopolis
  • Francis Bacon: Neu-Atlantis
  • Tommaso Campanella: Sonnenstaat
  • Thomas Morus: Utopia
  • François Rabelais: Thélème [in: Gargantua]
  • Gerrard Winstanley: Das Gesetz der Freiheit als Entwurf […]

Absolutismus und Aufklärung

  • Denis Diderot: Nachtrag zu Bougainvilles Reise […]
  • François de Salignac de La Mothe-Fénelon: […]Telemach
  • Gabriel de Foigny: La Terre Australe […]
  • Bernard le Bovier de Fontenelle: Histoire des Ajaoiens
  • Nicolas Gueudeville: […] Dialogue de Monsieur le Baron de Lahontan et d’un Sauvage dans l’Amérique
  • Louis-Sébastien Mercier: Das Jahr 2440
  • Jean Meslier: Le Testament
  • Nicolas Edme Restif de la Bretonne: La découverte australe par un homme volant
  • Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg

„Technischer Staat“ und industrielle Revolution

  • Edward Bellamy: Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887
  • Alexander Bogdanow: Der rote Planet & Ingenieur Manni
  • Edward Bulwer-Lytton: Das kommende Geschlecht
  • Samuel Butler: Erewhon
  • Étienne Cabet: Reise nach Ikarien
  • Charles Fourier: Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen
  • Theodor Herzka: Freiland
  • Étienne-Gabriel Morelly: Gesetzbuch der natürlichen Gesellschaft
  • William Morris: Kunde von Nirgendwo
  • Robert Owen: Eine neue Gesellschaftsauffassung
  • H. G. Wells: A Modern Utopia
  • Leo Trotzki: Literatur und Revolution
  • Oscar Wilde: Der Sozialismus und die Seele des Menschen

Vollendung der utopischen Moderne → postmaterielle Utopien

  • Ernest Callenbach: Ökotopia
  • Aldous Huxley: Schöne neue Welt / Eiland
  • Ursula K. Le Guin: Planet der Habenichtse
  • George Orwell: 1984
  • Jewgeni Iwanowitsch Samjatin: Wir
  • B. F. Skinner: Futurum Zwei
  • H. G. Wells: Menschen Göttern gleich

Und natürlich, die Folien, vor deren Hintergrund alle Utopien vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden:

  • Platon: Politeia [aus der vieles, vor allem die immer wieder, unter immer anderen Namen, erscheinende Herrscherkaste aller Utopien und Dystopien stammt]
  • Thomas Hobbes: Leviathan [der mit diesem Werk sozusagen den Gegenpol zu Platon darstellt: die Unordnung ohne den Staat, den Kampf aller gegen alle]

Einige der oben aufgeführten utopischen Schriften wird die geneigte Leserin, der geneigte Leser, in diesem Blog bereits vorgestellt finden, andere werden unter Umständen noch folgen. Ich will hier nicht auf alle verlinken – ein Blick ins Inhaltsverzeichnis hilft weiter.

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