Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht

In diesem Buch findet sich der Leser – wenig überraschend – immer wieder selbst. Denn jeder Buchliebhaber besitzt eine mehr oder weniger große (kleine) Bibliothek, die seine Vorlieben, Aversionen, Neigungen widerspiegelt und fast jeder ist mit der Tatsache konfrontiert, dass es zu wenig gibt für diese vorgestellte Bibliothek: Zu wenig Geld, zu wenig Zeit und – ständig wiederkehrend – zu wenig Platz (hier spreche ich pro domo: In diesem Haus sind einzig Bad/Toilette buchfreie Zonen, ansonsten hat sich überall schon ein Stückchen Wand gefunden, dem man ein Bücherregal applizeren konnte).

Manguel beschreibt die verschiedenen Funktionen, die eine Bibliothek für den Einzelnen, aber auch in der Geschichte, erfüllt hat: Bibliotheken als Ordnung, Raum, Macht, Identität, als Überleben, Zuhause oder Phantasie. Man wird von diesen Beschreibungen angenehm berührt, betrauert den unersetzlichen Verlust der Bibliothek von Alexandria, leidet mit den Verfolgungen, denen Bücher (Leser, Autoren) ausgesetzt sind, freut sich, manche Zitate zu erkennen, Ähnliches gedacht, gefühlt zu haben – wobei die einzige Voraussetzung für eine solche emotionale Verbindung die Liebe zum Lesen, zum Wissen-Wollen, zum Versinken in phantastische Welten ist. Bibilotheken als ein Hort der Menschlichkeit, des Träumens: Ob in einem Konzentrationslager, in einem abgelegenen Dorf Kolumbiens oder in den Mogao-Höhlen. Und Bibliothken als ein Hort des Subersiven, Gefährlichen (was den meisten Machthaber stets bewusst war: Ob Kirche, NS-Staat oder Sowjetunion – alle hatten ihren eigenen Index), Bücher, die aufstacheln, zum Denken anregen, Alternativen anbieten.*

Manguel aber ist auch ein Konservativer (was gerade in Bezug auf die Literatur nichts Negatives sein müsste): Und so sieht er im „Internet nur Oberfläche ohne Tiefe, nur Gegenwart ohne Vergangenheit“, dort „würden sie (die User) zu bloßen Konsumenten und nie etwas wirklich Wertvolles lernen, weder über sich selbst noch über ihre nähere Umgebung oder den Rest der Welt“. Das ist die – recht einfältige – Klage eines Zurückgebliebenen, zurück bleiben Wollenden, der ob seiner Belesenheit eigentlich wissen müsste, dass dieses Lamento immer und immer wieder erhoben wurde, wenn etwas Neues (etwa so Verwerfliches wie der Buchdruck) auftauchte. Später mildert der diese seine Anwürfe ein wenig ab, er spricht von Koexistenz, besteht aber darauf, dass das haptische Erlebnis eines Buches nie das Lesen auf einem Bildschirm ersetzen könne. Er verweigert sich der trivialen Einsicht, dass jedwede Neuerung janusköpfig ist, dass aber das Wundervolle darin besteht, über Nutzen und vergeudete Zeit selbst entscheiden zu können; dass es der Einzelne ist, der diesen Dingen ihren Sinn für sein Leben Wert verleiht. Das Übermaß an Information zwingt zur Bescheidung, es zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Angebot, verführt wohl auch manchmal: Immer aber ist es besser, wählen zu dürfen, anstatt mit einem handlichen, von oben verordneten Index ausgestattet sein geistiges Erleben bestreiten zu müssen.

Trotzdem ist das Buch ein Genuss für jeden Leser, jeden Bibliophilen: Es erinnert an all das bereits Gelesene, aber auch an all die noch zu entdeckenden Welten, verborgen zwischen zwei Buchdeckeln. Auf die Nennung einer Bibliothek habe ich allerdings vergebens gewartet (und das, obwohl im Kapitel der „Bibliothek als Phantasie“, in der sehr viel von ungeschriebenen, vorgestellten, noch zu erschaffenden Geschichten die Rede ist, die Gelegenheit bestanden hätte, sie zu erwähnen): Sie, nämlich die Bibliothek des vergnügten Schulmeisterleins aus Auenthal, Maria Wutzens höchst persönliche, mit allen Meisterwerken der Weltliteratur ausgestattete Bibliothek. Ein Versäumnis, das fast unverzeihlich erscheint.


*) Mit einer solchen Zensur war ich selbst konfrontiert: In meinem alle Literatur als überflüssig betrachtenden Elternhaus (Romane kauft man nicht, borgt sie bestenfalls aus, da man ja nach einmaligem Lesen ihren Inhalt kennt) wurde dem renitenten Sprössling verboten, Hesse zu lesen und – warum auch immer – Rilke. Man führte meine Unbotmäßigkeit auf derlei Lektüre zurück, sie lenke von Wichtigerem ab, vermittle ein fragwürdiges Weltbild, habe negativen Einfluss auf die Charakterbildung. Mutatis mutandis wurden also jene Befürchtungen wiederholt, die meine Eltern in ihrer Jugend vernommen haben mussten: Entartete Kunst, die den Volkscharakter verdirbt und eine gesunde und aufrechte Entwicklung verhindern.


Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht. Frankfurt a. M.: Fischer 2007.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 0

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert