Band 3 der ersten Abteilung ist der bei weitem umfangreichste (fast 700 Seiten), was vor allem dem Jahr 1801 zu verdanken ist, das über die Hälfte des Bandes einnimmt.
1801 ist ein ereignisreiches Jahr im Leben des Ferdinand Beneke. Beruflich ist er mittlerweilen einigermassen arrivierter Bürger Hamburgs, mit einer nicht schlecht gehenden Rechtsanwalts-Praxis und diversen Aufgaben in Hamburgs Verwaltung bzw. Rechtssprechung. Seine schlimmsten Geldsorgen sind vorbei – auch, weil sein Vater mittlerweile doch von seinen kaufmännischen Plänen abgerückt ist und sich mehr oder weniger in den Ruhestand begeben hat. (Ganz ohne Geldprobleme ist er freilich auch jetzt nicht.)
Beneke könnte es also ruhig angehen lassen. Doch 1801 ist das Jahr, in dem Hamburg von der Weltpolitik eingeholt wird. Die Kontinentalsperre von 1806 hatte nämlich durchaus ihre Vorläufer, und schon 1801 waren Preussen wie Dänemark nicht glücklich über Hamburgs florierenden Handel mit England. Man drohte Hamburg mit Besetzung, und Hamburg – knickte ein und liess sich besetzen. Dies sehr zum Entsetzen Benekes, der zu den Bürgern gehörte, die Widerstand leisten wollten – auch wenn er andererseits der Meinung war, dass Frankreich England erobern und besetzen sollte. (Von Napoléon hoffte er immer noch, dass dieser nach getaner Arbeit freiwillig zurücktreten werde …) Hamburg wird also trotzdem besetzt, und Beneke, der die dänischen Truppen besichtigt, macht sich in einem fort lustig über die kleinen hässlichen Menschen in ihren hässlichen Uniformen. (Uniformen machen Beneke übrigens immer und überall Eindruck. Wo immer er welche sieht – er muss sie in seinem Tagebuch beschreiben. Vor allem farbenprächtige Uniformen, wie sie damals noch Standard waren, gefallen ihm ungemein.) Beneke gehört zu denen, die immer noch von einem erneuerten Hanse-Bund träumen, einer Städte-Republik nach dem Modell der Vasallen-Republiken Frankreichs. Hamburgs Senatoren allerdings torpedieren jeden Versuch einer Annäherung an Bremen oder Lübeck.
Wenn aber der Leser der Tagebücher nun erwartet hätte, so etwas wie eine „Life-Berichterstattung“, eine Art Mikro-Geschichtsschreibung, lesen zu dürfen, wird er enttäuscht. Beneke ist sein Privatleben wichtiger. Das Thema der Besetzung wird rasch fallen gelassen. Dafür werden wir wieder Zeuge seiner Liebesverwirrungen.
Wenn wir davon reden, dass heute die Welt übersexualisiert sei, ist das meiner Meinung nach ein Irrtum. Gerade die Tatsache, dass wir immer und überall blanke Vorder- und Hinterteile beiderlei Geschlechts sehen können, hat meiner Meinung nach viel Druck von den Menschen genommen. Am Ende des 18. Jahrhunderts sah das Ganze noch anders aus. Ein Blick, ein Händedruck eines einigermassen hübschen und jungen weiblichen Wesens genügte, um Beneke spitz zu machen wie Nachbars Lumpi. Natürlich konnte er nicht zugeben (wohl nicht einmal vor sich selber), dass es im Grunde genommen nur der Sexualtrieb war, der ihn steuerte, und so imaginierte er sich eine Verliebtheit nach der andern. So weit, so untragisch und normal. Dummerweise aber passiert ihm das auch bei der Verlobten seines besten Freundes. Hypochonder, der er ist, kann er sich in diese Verliebtheit ungeheuer hineinsteigern. Seite um Seite seines Tagebuches füllt der mit Schilderungen seiner diesbezüglichen Befindlichkeiten. Hochs und Tiefs wechseln sich ab. Er gibt Auszüge aus dem Tagebuch an seinen betroffenen Freund weiter. Und wundert sich, als der ihm – Arzt, der er ist – den Rat gibt, seine Verliebtheit nicht ständig im Tagebuch breit zu treten. Beneke ist betroffen und gibt dem Freund die Schuld am Erkalten der Freundschaft.
Irgendwie merkt er aber doch, dass er so nicht weitermachen kann, und begibt sich auf eine Reise. Er reist bis Frankfurt am Main und über Belgien und Holland zurück. Belgien und die Belgier mag er witzigerweise so wenig wie Baudelaire 60 Jahre nach ihm. (Für die Belgierinnen macht er freilich eine Ausnahme – aber das wundert mich nicht wirklich bei Benekes Zustand einer dauernden sexuellen Überreizung.) Im übrigen ist Beneke ein schlechter Reiseschriftsteller: Er sieht weder Land noch Leute – oder kann sie zumindest nicht beschreiben. ‚Konnexionen‘ ist die Kategorie, in der er denkt. Er kommt zurück nach Hamburg – von seiner Liebe geheilt, wie er denkt; das Mädchen nur noch wie ein Bruder liebend, wie er denkt. Dass er im Tagebuch allerdings seiner leiblichen Schwester bei weitem nicht diese qualvoll-gespannte Aufmerksamkeit widmet wie seiner Quasi-Schwester, fällt ihm nicht auf. Mit andern Worten: Beneke nervt in dieser Lebensphase ungeheuer – den Leser wie wohl auch seine Zeitgenossen. Der mittlerweile 27-Jährige benimmt sich nach heutigen Massstäben wie ein 17-Jähriger.
Auch seine Lektüre bietet einen Einblick in die Befindlichkeiten der jungen Menschen im Übergang von Empfindsamkeit zur Romantik: Beneke liest Jean Paul, den ganz frühen Jean Paul. Wutz und Die unsichtbare Loge sind seine Lieblinge. Daneben trifft er einmal den damals in Eutin lebenden Jacobi. Engere Kontakte mit der literarischen Welt allerdings knüpft er auch jetzt keine.
Es bleibt zu hoffen, dass sich Beneke bald erholen wird …
2 Replies to “Ferdinand Beneke: Die Tagebücher. I/3: 1799-1801”