P. L. Travers: Mary Poppins

Links ein orangefarbener Streifen vom Leinen-Buchrücken. Dann auf Karton eine Zeichnung eines Frauenkopfes, der nach rechts blickt. Die Frau trägt einen schwarzen Hut, der mit Gänseblümchen verziert ist. Links weht ihr ebenfalls orangefarbener Schal im Wind, der durch wellenförmige helle Streifen im blauen Hintergrund symbolisiert ist. Aus dem Schal guckt neckisch ein kleiner gelber Papagei hervor. Ebenfalls fliegen ein paar Blätter durch die Luft sowie rosa Regentropfen (?). - Ausschnitt aus dem Buchcover.

Kinderbücher zu übersetzen ist nicht immer vom gewünschten Erfolg gekrönt. Selbst wenn das Buch in der Heimat ein Bestseller oder Longseller ist, bedeutet das nicht, dass es in anderen Sprachen, in anderen Ländern, auch ‚einschlägt‘. Der Fehler liegt meiner Meinung nach selten bei der Übersetzung als solcher. Es handelt sich meist um in keiner Übersetzung überbrückbare kulturelle Differenzen. Sehr deutlich sehen wir das, wenn wir überlegen, welche afrikanischen, japanischen oder chinesischen Kinderbücher hierzulande bekannt sind. Mir fallen keine ein. Selbst russische wüsste ich nicht zu nennen. Sogar wenn wir uns darauf beschränken, englischsprachige Kinderbücher zu betrachten, finden wir welche, die in ihrer Heimat Haushaltsnamen darstellen, hierzulande aber praktisch unbekannt sind. Den Schweizerischen Robinson kennen vor allem die US-Amerikaner (allerdings erwähnt Mary Poppins ihn auch).

Hollywood hat in vielen Fällen versucht, dem abzuhelfen. C. S. Lewis’ Narnia floppte aber auch als Film hierzulande ziemlich genau so wie das Buch. Der stark christlich-sektiererische Grundton kommt im angelsächsischen Raum bedeutend besser an, wo bis heute Atheismus ein soziales Stigma bedeuten kann. Chitty Chitty Bang Bang des Bond-Erfinders Ian Fleming floppte zwar nicht eigentlich, aber dennoch sind weder Film noch Buch hierzulande wirklich bekannt – zu britisch wohl der Humor. Oft genug ist es auch so, dass wir zwar den Film kennen, das Buch aber dennoch ignorieren. L. Frank Baums Zauberer von Oz ist so ein Fall, oder auch Peter Pan von J. M. Barrie. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass uns Baums mittlerer Westen, die Heimat der kindlichen Heroine Dorothy, ebenso fremd ist, wie die sozialökonomischen Verhältnisse im edwardianischen bzw. post-edwardianischen London von Barries Herione Wendy. Das wird dann in den Filmen großzügig weggelassen; sie konzentrieren sich auf den Abenteuerteil.

Letzteres gilt meiner Ansicht nach auch für das Buch Mary Poppins der in Australien zur Welt gekommenen Engländerin P. L. Travers. Der gehobene britische Mittelstand aus edwardianischen Zeiten, wo die Mütter sich holdem Nichtstun bzw. mehr oder weniger karikativen Beschäftigungen hingeben konnten (oder mussten, wie wie Virginia Woolf frustriert feststellte), während die Familie nicht nur eine Köchin hatte und einen Gärtner sondern auch eine Nanny, ein im Hause lebendes Kindermädchen – das ist uns hier und heute fremder als es englischsprachigen Lesenden ist, die sich nach wie vor sehr stark an solche Traditionen erinnern.

Wir kennen hierzulande also Oz, Peter Pan und Mary Poppins vorwiegend aus dem Film. Das bedeutet auch: Wir kennen das Original kaum. P. L. Travers hat sich lange gesträubt, ihre Erfolgsbücher um Mary Poppins verfilmen zu lassen, und als Walt Disney sie endlich überreden konnte, war sie vom Resultat keineswegs angetan. Vor allem die Hauptdarstellerin, Julie Andrews, war ihr zu jung, zu niedlich und zu freundlich. Einzig deren Nase, fand sie, passte.

Ich habe nur das erste Buch aus der Reihe gelesen, und werde den Rest wohl auch nicht mehr lesen. Auch Travers konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Erfolg wiederholen zu müssen, indem mehr über die gleiche Heldin geschrieben wurde.

Travers’ Mary Poppins ist ihrerseits keineswegs jung, niedlich und freundlich. Über ihr Alter erfahren wir zwar nichts Genaues, aber sie steht wohl eher in ihren Anfangsvierzigern und nicht Ende der Zwanzig wie Julie Andrews zum Zeitpunkt der Verfilmung. Auch ist diese Mary Poppins hier launisch und sehr in ihr Äußeres verliebt, um nicht zu sagen eitel. Entsprechend verläuft die Erziehung der vier Kinder, die ihr anvertraut worden ist. Ihre magischen Tricks und ihren Regenschirm hat der Film hingegen recht getreu übernommen. Mary Poppins ist in verschiedenen, miteinander nur locker durch die Chronologie der Ereignisse zusammenhängenden Episoden geschrieben. (Das gilt wohl auch für die Folgebände, weshalb der Film problemlos Episoden aus anderen Büchern übernehmen konnte.) Die Familie, deren Nanny Mary Poppins für einen Winter wird, besteht aus aus Mr und Mrs Banks und vier Kindern. Der Vater arbeitet in the City in relativ gehobener Position, aber wir erfahren nichts über seinen Job, außer dass sein Lohn gerade reicht, entweder vier Kinder zu haben oder ein instandgehaltenes Haus. Überhaupt spielen beide Elternteile – obwohl die Mutter offenbar zu Hause bleibt – eine marginale Rolle im Leben der Kinder. Diese sind in zwei Gruppen konfiguriert. Da sind zum einen Barbara und John, zwei Zwillinge – Babys, die im Lauf des Buchs ihren ersten Geburtstag feiern. Das ist dann zugleich das einzige Kapitel, in dem Mary Poppins nur eine Nebenrolle spielt und die beiden anderen Kinder gar nur Statisten sind. Diese beiden anderen Kinder, mit denen Mary Poppins durch die Straßen Londons zieht, sind Jane, die Älteste, und ihr jüngerer Bruder Michael. Beider Alter erfahren wir nicht. Trotz und mit ihrer ruppigen Art führt Mary Poppins die beiden Großen zu ihren Verwandten und Bekannten in London, wo sie dann auch schon mal für eine Tea Party an der Zimmerdecke schweben oder in die Kreidezeichnung eines Straßenkünstlers eintreten. Es sind keine großartigen Erlebnisse, keine gefährlichen Abenteuer, die sie durchmachen, und Mary Poppins’ Pädagogik ist oft fragwürdig. Auch das Buch als Ganzes ist (jedenfalls meistens) nicht allzu belehrend. Irgend einmal erfahren wir – aber recht chaotisch erzählt und ohne Namensnennung – etwas über den Architekten der St Paul’s Cathedrale und es werden der englische und der Schweizer Robinson erwähnt. So viel zur kulturellen Bildung, die Mary Poppins vermittelt.

Vielleicht ist gerade dies das Erfolgsgeheimnis des Buchs: Weder die Kinder noch ihre Nanny sind strahlende Gestalten. Die vorkommende Magie geschieht in allen Fällen eher beiläufig. Travers versucht sich auch in keinerlei moralischer Belehrung. Die (oft süffisante) Ironie, mit der Travers vor allem die Erwachsenen (Mary Poppins inklusive) schildert, aber auch die beiden altklugen Babys, macht mir persönlich das Buch sympathisch. Dennoch bleibt Mary Poppins ein Kinderbuch im klassischen Sinn: Bei aller leisen Kritik an der Menschheit ist es doch eine ziemlich heile Welt, die wir hier vorfinden.

Müsste Mary Poppins (das Buch) hierzulande bekannter sein? Die Gestalten sind letzten Endes halt vielleicht doch zu britisch und für Kinder schwer zu fassen. Erwachsene wiederum werden wohl von der fehlenden Spannung abgehalten. Auch Sozialkritik ist keine zu finden. Meine Antwort ist also ein ganz klares Jein.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 29

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