Nein, das da im Titel ist kein Deppenapostroph. Als „Holinshed’s Chronicles“ ist im angelsächsischen Raum das Werk bekannt, das ich vor kurzem gelesen habe – „Chronicles“, weil es eine Chronik darstellt, „Holinshed“ nach dem Namen des wichtigsten Beiträgers. (Ausgesprochen übrigens als „Holins-Hed“ …)
Viel weiss man nicht über Raphael Holinshed. Er lebte von 1529 – 1580, kam aus der englischen Provinz, arbeitete aber sein Leben lang in London, als Übersetzer und Mitarbeiter des Druckers Reginald Wolfe. Der hatte nun offenbar die Idee, eine Weltchronik von der Sintflut bis zur Regierung Elisabeths I. zu veröffentlichen. Nebst Holinshed arbeiteten auch noch weitere Leute daran, aber das Projekt überstieg offenbar rasch Wolfes Ressourcen – personell wie finanziell. Man entschloss sich zu einem „Down-Sizing“. Und so erschienen 1577 in London The Chronicles of England, Scotland, and Ireland. Wolfe erlebte das nicht mehr, er starb schon 1573. Das Projekt war von da an eine Gemeinschaftsunternehmung dreier Londoner „Stationers“, die Holinshed als einzigen der ursprünglichen Crew weiterbeschäftigten, ihm aber erlaubten, weitere Mitarbeiter anzustellen. Somit wurde der ansonsten unbekannte Mann zur zentralen Figur der Chronicles. Dieses Werk war so etwas wie ein Bestseller, und so erschien 10 Jahre nach der ersten eine zweite, erweiterte Auflage. Hier wurden die letzten 10 Jahre seit Erscheinen der ersten Auflage hineingepackt, das Volumen des Texts von rund 2,5 Millionen auf rund 3,5 Millionen Wörter angehoben. Die Auflage von 1587 sollte Weltruhm dadurch ernten, dass ein gewisser William Shakespeare sie für seine historischen Dramen schamlos ausbeutete.
Nicht, dass Holinshed und seine Mitarbeiter dasselbe nicht auch mit ihren Vorgängern gemacht hätten. So war z.B. Geoffrey von Monmouth eine ihrer Hauptquellen. Der mythologische König Lear wurde auf diese Weise von Geoffrey über die Chronicles an Shakespeare weitergegeben. Auch vom ebenso mythologischen Artus übernahmen die Chronicles einiges, wenn auch nicht jene Sage, dass Artus noch immer auf einer Insel darauf warte, sein Volk wieder in eine bessere Zeit führen zu dürfen. Artus hat ja auch Shakespeare weniger interessiert, die Faszination für jene einsame Gestalt auf der Insel Avalon sollte erst mit der aufkeimenden Romantik sich bilden. Dieser mythische Führer in eine bessere Zeit war am Ende des 16. Jahrhunderts auch politisch inopportun. Holinshed wie in seiner Folge auch Shakespeare feierten Elisabeth I. als Kulminationspunkt der britischen Geschichte, das Haus Tudor als die Vollendung der königlichen Häuser. Nun, so unrecht hatten sie nicht, wird doch bis heute die Regierungszeit von Elisabeth I. als das für Literatur und Kunst „Goldene Zeitalter“ Englands betrachtet. Selbst radikal „moderne“ Autoren wie Virginia Woolf waren von jener Epoche mit ihrem gewaltigen literarischen Leben fasziniert, und so feierte auch Woolf sie in ihrem Orlando oder in ihren literarischen Essays.
Bei der Lektüre der Chronicles wird man rasch feststellen, wo die Unterschiede zwischen einer Chronik und einem Drama liegen. Vieles, was Shakespeares historische Dramen für mich so langweilig machte, ist in der Chronik bedeutend interessanter. Schlachtenbeschreibungen oder auch die Beschreibung verwickelter Intrigen eignen sich nun mal nur bedingt für die Bühne. Hingegen kann ein Charakter wie Richard III. auf den Brettern, die die Welt bedeuten, um einiges holzschnittartiger und damit auch dämonischer, schwärzer dargestellt werden, als es die relativ neutrale Schilderung eines Geschichtsschreibers darf. Und was mir Shakespeares Henry IV. / Heinrich IV. so schätzenswert machte, die Dynamik zwischen den Figuren des Prinzen Harry und Sir John Falstaffs, fehlt bei Holinshed ganz. Der Prinz spielt in der Glanzzeit von Heinrich IV. eine völlig untergeordnete Rolle; es wird in einem oder zwei Sätzen erwähnt, dass er ein ziemlicher Tunichtgut war, der aber dann doch in der entscheidenden Schlacht seinem Vater tapfer und treu zur Seite stand. Falstaff existiert gar nicht.
Gelesen habe ich die Auswahlausgabe, die 2012 bei der Folio Society in London erschien. Die Auswahl folgt dem Text der zweiten Ausgabe von 1587. Die Orthographie der Zeit wird beibehalten. Dem sonstigen Usus dieses Buchklubs entgegen finde ich aber keinen Hinweis auf eine andere Ausgabe, der die Auswahl entlehnt worden sein könnte, vielleicht haben wir eine Originalausgabe vor uns. Die Folio Society verwendet nicht nur den Text der Ausgabe von 1587, sondern auch die darin enthaltenen Holzschnitte. Den zeitgenössischen Brauch, einen Holzschnitt mehrfach zu verwenden, wenn er denn nur einigermassen zum Text passte (und dem auch die Herausgeber der Chronicles gefolgt sind) haben die heutigen Herausgeber allerdings verlassen; jeder Holzschnitt wird nur einmal reproduziert. Dafür sind die einzelnen Ausschnitte mit einem kurzen Kommentar versehen, der die Verbindung des Textes mit Shakespeares Dramen kurz skizziert – und nicht nur mit denen Shakespeares, auch Christopher Marlowe und andere haben fleissig aus den Chronicles exzerpiert und werden mit dem „Original“ verglichen.
Also sicher Pflichtlektüre für jeden an Shakespeare Interessierten, aber generell an jenem Goldenen Zeitalter, zu dem Holinshed so Wichtiges beitrug. Und, last but not least, eine interessante Lektüre für jeden an älterer Geschichtsschreibung Interessierten.