Naturalistische Literatur ist ein zweischneidiges Schwert: Der klassische französische Naturalist Emile Zola ist für mich beinahe unlesbar (und kein Naturalist im Wortsinne: Sind seine Darstellungen doch von sentimentalem Pathos durchzogen und stellen keinesfalls ein Leben in naturaliter dar, sondern vielmehr so, wie sich das der Schriftsteller vorstellt, vorstellen will), ebenso wenig kann man mich pedantischen Beschreibungen, hinter denen die künstlerische Arbeit des Autors verschwindet, beeindrucken. Crane umschifft beide Klippen – wohl, weil er mit dem Leben im legendären Bowery-Stadtteil von New-York vertraut ist – was eine gute Voraussetzung sein mag, keinesfalls aber notwendigerweise zu derart bestechenden Milieustudien führen muss.
In beiden Erzählungen wird eine distanzierte Sichtweise eingenommen, wir sehen den Reporter und Journalisten Crane am Werk (nicht aber einen auktorialen Erzähler, der seine Handlung bzw. das Verhalten seiner Protagonisten kommentiert). Nach nur wenigen Sätzen meint man die armselige Szenerie im heruntergekommen Vorort von New-York zu sehen, man glaubt den Alkoholatem zu riechen, den Gestank in Stiegenhäusern, das Gebrüll von betrunkenen Ehemännern, das Gekeife der Frauen zu hören. Und irgendwo dazwischen wachsen Kinder auf, die sich von früh an dem Wortsinne nach durchschlagen müssen, die eine aussichtslose Welt von Gewalt und Alkoholismus erfahren. Diese Aussichtslosigkeit ist kein literarischer Trick, um ein tragisches Schicksal darzustellen, sondern dem Leben dort immanent: Eine wirkliche Möglichkeit, dieser Welt zu entkommen besteht nicht. Vielleicht hätte Maggie nicht als Prostituierte enden müssen (die dann Selbstmord begeht), aber eine wirkliche Chance auf ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben bestand nie (ihr anfängliches Dasein als Fabrikarbeiterin ist ebenso trostlos wie jenes als Straßenmädchen, ihre Leichtgläubigkeit könnte bestenfalls ersetzt werden durch den bigotten Zynismus ihrer Mutter – tatsächliche Alternativen sind schlicht nicht existent). Crane kritisiert nicht explizit, sondern beschreibt: Doch gerade dadurch wird das soziale Elend, die Ausweglosigkeit noch eindrücklicher. Indem der Autor auf jede Form solcher Sozialkritik verzichtet, nirgendwo auch nur andeutungsweise Vorschläge zur Verbesserung der Situation unterbreitet, wird die Not und das Leid dieser Menschen manifest, unabänderlich.
In „Georges Mutter“ schließlich wird das Leben geschildert, dass Maggie vielleicht – bestenfalls – hätte führen können: Diese Mutter hat fünf Söhne, von denen vier frühzeitig sterben (ebenso wie ihr Mann) und der letzte sich langsam zum Alkoholiker entwickelt. Der mühsame Kampf der alten Frau um Anständigkeit, um nicht wirklich fassbare moralische Werte geht langsam verloren, nicht weil George ein „schlechter“ Mensch wäre, sondern vielmehr, weil auch er zur Hoffnungslosigkeit verdammt ist. Er lässt sich beschwatzen wie Maggie, Naivität gepaart mit Willensschwäche und dem Wunsch nach ein klein wenig Anerkennung lassen auch seinen Weg unausweichlich erscheinen. Die Erzählung endet mit dem Tod der Mutter durch einen Schlaganfall, mit der Trauer Georges – und dennoch glaubt man genau zu wissen, wie sich dessen Leben nachfolgend entwickeln wird. – Crane gelingt hier eine mehr als eindrucksvolle Milieustudie, er versteht es, mit wenigen Strichen ein Bild zu zeichnen von immer schon aussichtslosen Biographien, von einem Leben in Armut und prinzipieller Hoffnungslosigkeit – frei von allem Pathos und jeglicher Sentimentalität.
Stephen Crane: Maggie, das Straßenmädchen. Georges Mutter. Berlin: Ullstein 1989.