Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. [1784:] Erster Teil

Großaufnahme einer grauen Gewebestruktur (= Leineneinband der gelesenen Ausgabe).

Wir kamen auf Herder zurück und ich fragte Goethe, was er für das Beste seiner Werke halte. „Seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, antwortete Goethe, sind unstreitig das vorzüglichste. später warf er sich auf die negative Seite und da war er nicht erfreulich.“

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 9. November 1824

In der Tat beweist Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (wie der korrekte Titel des von Goethe und Eckermann offenbar aus dem Gedächtnis genannten Werks lautet), dass er zu Recht zu den Großen der Deutschen Klassik gezählt wird – und dass die Deutsche Klassik zu Recht als eigenständige Periode zwischen Sturm und Drang einerseits, der Romantik andererseits geführt wird. (Was die deutschsprachige Literatur- und Geistesgeschichte ja meistens macht; nur englischsprachige Publikationen pflegen die Deutsche Klassik zusammen mit dem Sturm und Drang der Einfachheit halber der Romantik zu subsumieren.) Denn wir finden in Herders Werk die für die Deutsche Klassik typische zentrale Stellung des Menschen, der Humanität, ethischer Fragen, die über eine bloß utilitaristische Moral hinausgeht, mit Rückgriff auf die Antike auf der einen Seite – diesen Rückgriff aber, anders als in der Renaissance, immer unterfüttert mit aufklärerischen Zielen, wie sie (auch) zur Entwicklung der Naturwissenschaft geführt haben: Nachfragen, selber testen, Demonstration ad oculos und nicht ex cathedra. (Die spätere, von der Romantik ge- und verformte so genannte „Geisteswissenschaft“ pflegt diesen Aspekt der Deutschen Klassik bis heute zu vernachlässigen; weshalb denn auch Goethes naturwissenschaftliche Schriften – wenn überhaupt – in den hinteren Bänden seiner Werkausgaben versteckt zu sein pflegen; wenn möglich gar herausgegeben von naturwissenschaftlichen Scharlatanen wie Rudolf Steiner. Was das Bild der naturwissenschaftlichen Betätigung der Deutschen Klassiker in den Augen eines breiteren Publikums auch nicht verbessert.)

Genau diese typische ‚Deutsche Klassik‘ haben wir in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit Herders vor uns. Wobei zunächst der Titel einer Erklärung bedarf. Die Ideen darin sind nicht ‚Ideen‘ im philosophisch-platonischen Sinne, oder jedenfalls nur am Rande. Herder verwendet hier das Wort Idee im gleichen Sinn, wie wir es im Alltag noch heute tun: als Synonym für ‚Geistesblitz‘ oder ‚Anregung‘. Philosophie wiederum deutet darauf hin, dass Herder eine Systematik der Geschichtsschreibung zu liefern versucht (dies dann allerdings in Form einer Geschichtsschreibung). Aus seinem Beispiel schließen wir: Geschichte soll unter einem wohl definierten Aspekt geschrieben werden und sich nicht mit einer simplen chronologischen Aufzählung von Fakten begnügen – keine Annalen also, sondern Analyse unter dem bestimmten Gesichtspunkt – der Humanität.

Herders Gesichtspunkt nämlich ist es, dass die Geschichte in der Entwicklung des Menschen kulminiert. Wir sind heute von dieser teleologischen Auffassung wieder abgekommen – für einen Vertreter der Deutschen Klassik war sie natürlich. Bevor aber der Mensch als solcher untersucht und dargestellt werden konnte, musste für Herder zunächst die Geschichte des ihn umgebenden Kosmos dargestellt werden. Und hier verfährt Herder ganz als Naturwissenschaftler. Nicht, dass er selber Experimente oder Untersuchungsreihen durchführen würde, aber er referiert das Weltbild und die Kosmologie, die von der damaligen Spitzenforschung etabliert worden waren: Kopernikus, Kepler, Newton, Huygens und Kant, was das All betrifft (ja: Herder hatte die ansonsten recht unbekannt gebliebene Schrift Kants zur Allgemeine[n] Naturgeschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebäudes nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt von 1755 gelesen!); Forster, Pallas, de Saussure oder Haller, was Geografie und Geologie betrifft; für Biologie (Physiologie und Anatomie) stützte er sich auf damalige Kapazitäten wie Linné, Camper, oder Soemmerring. Wichtig ist hier auch, dass er bei der ganzen Entstehung und Entwicklung des Alls und der Lebewesen nur selten direkt auf einen Schöpfergott zurück greift, meistens spricht er einfach von der Natur. In einem Nebensatz ganz zu Beginn sagt er zwar, dass, wer wolle, selbstverständlich „Gott“ lesen könne, wo er, Herder, „Natur“ geschrieben habe. Damit hat er allerdings wohl kaum seine Rechtgläubigkeit demonstriert; vielmehr liegt hier wohl einer der Gründe, warum sein Name bei seinen Zeitgenossen immer wieder in der Liste der Pantheisten erschienen ist. Das war damals de facto gleichbedeutend mit Atheismus; allerdings ist zu sagen, dass Herder in einem Nebensatz dem Franzosen Voltaire eine falsche Vorstellung von Gott und dessen Wirken vorwirft, wenn dieser anlässlich des zerstörerischen Erdbebens von Lissabon Gott prinzipiell in Frage stellt. Selbst zum manchmal fehlenden, manchmal eben nicht fehlenden Zwischenkieferknochen beim Affen macht sich Herder seine Gedanken. Zwar ist der Affe für ihn irgendwie schon die Vorstufe zum Menschen. Aber aus der Tatsache, dass auch bei Affen dieser Knochen fehle, kann Herder, der letzten Endes halt doch kein Naturwissenschaftler ist, weder den Schluss ziehen, dass dieses Ding sehr schwierig zu finden sei (wie es dann Goethe getan hat – und mit noch genauerem Hinschauen den Zwischenkieferknochen auch beim Menschen nachweisen konnte), noch den, dass es Affen (oder zumindest Affenarten) geben könnte, die anatomisch wie der Mensch gebaut seien. Für Herder ist etwas anderes wichtig. Er legt das Gewicht auf den Umstand, dass dem Affen vor allem etwas fürs Menschsein fehlt: die Sprache, mit der der Mensch sich nicht nur mit andern Menschen verständigt (auch der Affe kann mit seinesgleichen kommunizieren), sondern mit der er fähig wird, von der aktuellen Situation, in der er sich befindet, zu abstrahieren, Probleme aus dem Kontext zu schälen und so ein für alle Male für sich und alle anderen Menschen durch zu denken und zu lösen. (Was der Naturwissenschaftler Herder neben den Unterschieden im Aufbau des tierischen bzw. menschlichen Schlundes auch auf Unterschiede in Größe und Position des Hirns zurückführt!) Nur einmal wird Herder originell – jedenfalls ist mir der Gedanke, dass die Verbindung zwischen Seele und Leib (nämlich: dass der Körper ausführt, was die Seele will) dass diese Verbindung also durch eine Art Äther sicher gestellt wird. So abwegig ist die Idee ja nicht einmal – in Anbetracht des Umstandes, dass in der Physik des 18. und 19. Jahrhunderts die Schulmeinung galt, dass eine physikalisch sehr seltsam gestaltete Substanz namens „Äther“ der Träger der Lichtwellen (z.B. durchs All) sei.

Für mich stellt es bei der Lektüre von naturwissenschaftlichen Schriften des ausgehenden 18. / beginnenden 19. Jahrhunderts den Lackmus-Test dar, wie es der Autor oder die Autorin in Bezug auf den römischen Daten-Sammler Plinius hält. Allzu viele unkommentierte (also: positive!) Zitate aus dessen Naturgeschichte sind für mich immer ein Hinweis, dass es der Forscher oder die Forscherin noch nicht geschafft hat, sich vom Sammler-Denken, das die Renaissance wieder in Mode gebracht hatte, zu lösen – dass man noch zu autoritätsgläubig ist. Herder – wenn ich das richtig gesehen habe (ich habe jetzt keine Konkordanz konsultiert) – erwähnt den alten Römer ein einziges Mal: um sich über eine seiner Geschichten lustig zu machen. Ansonsten, wie gesagt, nur Leute, deren Forschungsresultate bis heute gültig sind oder zumindest die Grundlage der heutigen Naturwissenschaften bilden, auf der aufgebaut und weiter entwickelt wurde. Herder ist dabei, wie auch schon gesagt, kein eigentlicher Wissenschaftler – er referiert bloß, forscht nicht selber. Das ist aber auch nicht Sinn und Zweck des vorliegenden Werks. Im ersten Buch der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit will der Autor nur die Basis liefern, auf der in den späteren Büchern (es sind insgesamt deren vier) der Mensch in extenso behandelt werden soll.

Hier geht es nur darum, den Menschen auch physiologisch als Spitze der Entwicklung des Lebens dargestellt zu haben. Die menschliche Physiologie ist dabei eben zugleich eine, die den Menschen nicht nur zur Humanität und Religion bildet, sondern zum Denken überhaupt. Eine ‚jenseitige‘ Welt wird dabei von Herder keineswegs geleugnet; sie ist offenbar das Ziel der Entwicklung des Menschen, denn, wie das allerletzte Kapitel des ersten Buchs festhält: Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweener Welten – will sagen: Der Mensch ist zwischen Tier und Engel; will aber ebenso sagen: Auch die Wesen im ‚Himmel‘ sind letzten Endes der Weltordnung unterstellt, wie sie ‚auf Erden‘ feststellbar ist.

Hauptsächlich Präliminarisches in diesem ersten Buch. Dennoch nicht uninteressant. Herder denkt teleologisch, das ist aus heutiger Sicht sein großes Defizit. Aber er denkt selber und erfüllt damit das bekannte Postulat Kants an den aufgeklärten Menschen.

2 Replies to “Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. [1784:] Erster Teil”

  1. Wir kamen auf Herder zurück und ich fragte Goethe, was er für das Beste seiner Werke halte. „Seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, antwortete Goethe, sind unstreitig das vorzüglichste. später warf er sich auf die negative Seite und da war er nicht erfreulich.“

    Vielleicht, dachte Goethe an ihre gemeinsame „positiv natürliche“ Auslegung des Hohliedes in der Zeit des Strum und Drang !

    So z.B. Herder:
    „Der Baum, der über ihr webet, dünkt ihrem zunehmenden süßen Rausche Panier der Liebe. Sie schwimmet, sie schwindet im Meer seiner Kühle und Entzückung; die süße Frucht ihres Geliebten, Apfel und Weinhülle, dünkt ihr Eins; „o labt mich mit dem Weine! o stärkt mich mit den Aepfeln! Denn ich bin krank für Liebe.“ Sie sinkt, und was bisher Bild des Baums war, wird im Traume in Würklichkeit und Person verwandelt:

    „Seine Linke
    Mir unterm Haupt:
    Seine Rechte
    Umfaßt mich.“

    Sanft zerrinnen ihre Sinnen unter dem webenden Baum im Schoosse der Natur, Unschuld und Liebe.
    Und ihr Geliebter singt das süße Schlummerlied, bei dem gleichsam die ganze Natur feiret. Das flüchtige Reh, die leise Hindin schweben vorüber und scheuen sich zu rauschen; „ihr Töchter Jerusalems, Gespielinnen, folget dem Beispiel, weckt sie nicht, regt sie nicht, bis sie selbst erwacht.“ Sie schläft im süßesten Genuße, dem Traum der Liebe. Der Augenblick ist so schön, daß noch am Ende des Buchs dieser Apfelbaum vorkommen wird, als ein Andenken der schönsten Jugend, den damals gemachten Bund auf immer zu vesten.
    O ihr Bräute jugendlicher Unschuld, Liebe und Freude, kennet ihr etwas süßers, als die Zeit, da euer Geliebter euch Alles war und Alles in Hoffnung, in Ahndung ungefühlter Freuden? Träumt ihn lange den seligen Traum Adams und Eva’s im Paradiese: umarmet den geliebten Baum und labt euch, und sehet in ihm das Panier der Liebe weben…“

    Aus: Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Band VIII. Hrsg. von Bernhard Suphan. Georg Olms Verlagsbuchhandlung Hildesheim 1967. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1892.

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