Marcel Proust: À la recherche du temps perdu VII. Le temps retrouvé (2) [Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit]

Schrift "A LA RECHERCHE DU TEMPS PERDU" rot auf beige. Ausschnitt aus Buchcover.

Nun hat er sie also wieder gefunden, unser Ich-Erzähler – die Zeit nämlich, die ihm verloren ging, weil er nach eigenem Bekunden lieber faul herumlag oder sich als Salonlöwe gerierte. Gerade erst noch, vor ein paar Seiten, war er an seiner Begabung zum Schriftsteller verzweifelt – nun, am Schluss des Buchs und damit des Romans, opfert er alles andere auf, um diesen, „seinen“ Roman zu schreiben. Aber diese paar Seiten Erzählzeit umfassen mehrere Jahre erzählter Zeit: Unser Ich kehrt nach einem langen Aufenthalt in einem Sanatorium nach Paris zurück, wo er noch einmal eine Gesellschaft der Gräfin von Guermantes besucht.

Um uns aber zu erzählen, wie sein Erzähler doch zu seiner Berufung findet, packt Proust sein ganzes Können aus. Nach einem Zwischenspiel nämlich mit dem Baron de Charlus, den er trifft, bevor er den Salon der Gräfin betritt, erlebt der Ich-Erzähler noch einmal einen Madeleine-Effekt. Beim Betreten des Hofs des Hauses, in dem sie wohnt, wird er von einem Fahrzeug an die Wand gedrückt. Das erinnert ihn an etwas, das er zunächst nicht identifizieren kann, das ihn aber sehr glücklich macht. Er versucht, diese Erinnerung gleich wieder hervor zu rufen und findet tatsächlich heraus, dass sie provoziert wurde durch den Umstand, dass er beim Ausweichen für einen Moment auf zwei ungleich hohen Pflastersteinen stand. Er stellt sich nun absichtlich noch einmal so hin, bis er seine Erinnerung definitiv benennen kann: So, auf ungleich hohen Pflastersteinen, stand er für einen Moment in einer Gasse Venedigs und schaute auf die Kanäle hinaus – ein Moment puren Glücksgefühls für ihn.

Doch Proust wäre nicht Proust, wenn er es dabei bewenden ließe. Anders als bei der Schilderung jener Erinnerung, die das im Tee ertränkte Madeleine in seinem Ich-Erzähler hervor rief, geht der Ich-Erzähler seiner Erinnerung dieses Mal systematischer nach. Er verliert sich, unterdessen reifer geworden, in einer Erörterung darüber, was denn nun die Wahrheit sei – das tatsächliche Erlebnis oder die Erinnerung daran. Er plädiert für die Überarbeitung der ursprünglichen Impression, die das Erinnerte im Geist des sich Erinnernden erfährt – und hat nun den Ausgangspunkt des Buchs, das er schreiben will, gefunden. Nicht die Realität, sondern das Erlebte will er wiedergeben. Proust lässt seinen Ich-Erzähler dabei zunächst auf den zwei Pflastersteinen stehen, später in der Bibliothek der Guermantes warten, bis das gerade gespielte Musikstück beendet ist. Einmal mehr erleben wir so den Ich-Erzähler, wie er in Erinnerungen und Gedanken versunken alles um sich her vergisst, einmal mehr dehnt Proust die Erzählzeit weit über die erzählte Zeit hinaus.

Die folgende Schilderung der Abendgesellschaft ist dann vor allem eine Schilderung dessen, wie sich der Ich-Erzähler nach und nach bewusst wird, dass die fremden und seltsamen Gäste ihm durchaus bekannt sind – sie haben einfach gealtert und vor allem ihre Gesichter haben sich verändert. Natürlich sind auch andere Änderungen da. Die Gräfin von Guermantes ist nicht mehr die, die er einmal kennen lernte, sondern es handelt sich um die frühere Mme Verdurin, die nach dem Tode ihres ersten Mannes, über den Umweg einer Ehe mit einem minderen Adligen, nunmehr in den Hochadel eingeheiratet hat. Unser Ich-Erzähler trifft auch auf seinen ehemaligen Schwarm, Mme de Guermantes. Auch sie ist älter geworden und hat ihren früheren Witz praktisch verloren. Bei ihrem Gespräch über die alten Zeiten muss der Ich-Erzähler feststellen, dass sie sich an viele Dinge ganz anders erinnert als er. (Im Gegensatz zu seinen theoretischen Überlegungen im Vorfeld des Abends, scheint er aber der Meinung zu sein, dass seine Erinnerungen faktisch richtig sind, was er auf Grund seiner gerade gefundenen impressionistischen Wahrheitstheorie eigentlich nicht dürfte.) Er trifft auf Gilberte, Witwe seines Freundes Robert de Saint-Loup und ebenfalls ehemaliger Schwarm von ihm, und – verwechselt sie zunächst mit ihrer Mutter Odette. Diese wiederum ist ebenfalls da. Sie ist unterdessen die Geliebte von M. de Guermantes, den er ebenfalls sieht, mit dem er aber nicht ins Gespräch kommt.

Es scheint also, als wäre unser Ich-Erzähler, trotz seiner den Pflastersteinen zu verdankenden Erleuchtung, bereits wieder im alten Fahrwasser, nachdem er einmal den Schock überwunden hat, alle seine Bekannten und Freunde gealtert zu finden und selber als Opa angeredet zu werden. Dann aber präsentiert ihm Gilberte ihre (und Roberts) Tochter, eine ungefähr 16-jährige junge Frau. Das ist nicht nur das erste und einzige Mal, dass wir halbwegs genau erfahren, wie viel Zeit zwischen den Ereignissen des Romans verstrichen ist, es ist auch für den Ich-Erzähler der letzte Anstoß. Denn in dieser jungen Frau verkörpert sich für ihn seine ganze Vergangenheit: Die Personen von Gilberte und Robert, aber auch die früher geografisch, kulturell und sozial strikt getrennten Gebiete von Swanns Welt und der Welt der Guermantes. Verknüpft mit der Tatsache, dass offenbar er und Mme de Guermantes die einzigen sind, die sich noch mehr oder weniger erinnern, wie es früher war, weiß er nun, was er schreiben muss. Er ist sich auch darüber klar geworden, dass er für sein gigantisches Projekt nur noch wenig Lebenszeit hat und beschließt, sich von solchen Gesellschaften und seinen Freunden loszusagen, den Rest seines Lebens nur noch dem Roman zu widmen, der nun vor uns liegt, nachts zu schreiben, wo er weniger gestört wird, tagsüber zu schlafen. Und neben sich nur die alte Bedienstete Françoise zu haben, die ihm dabei hilft, Ordnung in seinen Papieren zu halten. (Diese Frau, die schon ganz zu Beginn des Romans als Großmutter geschildert wurde, muss unterdessen mindestens 100 Jahre alt sein. Aber – auch wenn der Ich-Erzähler meint, sie sei nun erblindet – die Zeit scheint für sie weder verloren noch wiedergefunden, sondern ganz einfach nicht zu existieren.)

Proust skizziert zum Schluss des Romans tatsächlich seine eigene Arbeitsweise. Doch wir dürfen uns nicht in die Irre leiten lassen. Was der Ich-Erzähler des Romans nun zu schreiben beginnt, sind Memoiren, Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Diese Erinnerungen zwar hat sein Gedächtnis überarbeitet, sie müssen nicht unbedingt zu 100% korrekt sein. Aber es sind doch Erinnerungen – jedenfalls auf der Erzählebene. Was uns Proust aber liefert, was uns erzählt wird, ist ein Roman. Ist Fiktion. Keine der darin vorkommenden Figuren, selbst nicht der Ich-Erzähler, haben auch nur annähernd so existiert, wie Proust es schreibt. Dass er dennoch die Gesellschaft der (später so genannten) Dritten Französischen Republik genauer darstellt als jede/r vor und nach ihm, dass diese Darstellung aber keineswegs an ihre Zeit gebunden bleibt, ist Teil der Größe von Autor und Roman. Wie weit aber die ästhetischen oder poetologischen Ausführungen des Ich-Erzählers sich decken mit jenen von Proust selber, will ich dahin gestellt lassen.

Damit habe ich ein weiteres Leseprojekt beendet. Ich habe viel gelernt darüber, wie schlecht und unaufmerksam ich Auf der Suche nach der verlorenen Zeit bei meiner ersten Lektüre gelesen habe. Von Zeit zu Zeit ein Buch nochmals herausgreifen, nochmals lesen, tut gut.

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