Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum

Ausschnitt aus dem Buchcover, das Folgendes zeigt: "Harzburg. Kurhaus u. Actienhötel [Harzburger Hof, R.P.]. Postkarte. Louis Elsässer, Leipzig, Nr. 8261 (gestempelt: 16.7.1908)." Der Ausschnitt zeigt das Kurhaus. Die ursprüngliche Schwarz-weiß-Fotografie wurde in dunkelblau-weiß geändert, mit Ausnahme des nun heraus leuchtenden Kurhotels und des Brunnens, die schwarz-weiß geblieben sind. Der Rest des Bilds stellt den Kurpark dar: Wege und Rasen zum Umher-Wandeln.

Bei diesem Roman Raabes ist der Untertitel nicht unwichtig. Genauer gesagt: ein Wort darin – Säkulum. Denn dieses Wort stellt einen der Schlüssel dar, mit dessen Hilfe wir uns Unruhige Gäste erschließen können – einen der vielen möglichen, denn wie alle gute Literatur weist dieser Roman viele mögliche Interpretationen auf. (Womit gleich geklärt ist, dass ich diesen Roman Raabes – obwohl eher unbekannt – für einen seiner besten und damit auch für gute, ja sehr gute Literatur halte.)

Säkulum ist zunächst einmal der alte lateinische Ausdruck für ‚Jahrhundert‘. Ein Roman aus dem Jahrhundert also, nämlich dem 19., vielleicht sogar dem ausgehenden 19. So beschreibt Unruhige Gäste zunächst einmal den Zusammenprall zweier völlig verschiedener Welten – der alten dörflichen und einer neuen, mondänen, die sich im Kurpark trifft. Doch Raabe lässt auch die kirchenlateinische Bedeutung des Worts mitschwingen, wo ‚saeculum‘ die zeitliche Welt bedeutet, das irdische Leben im Gegensatz zum Himmlischen. Und damit natürlich auch den säkularen Staat, der sich von der Religion getrennt hat, nichts mehr von ihr wissen will. (Wenn sich unser Gentlemen-Gelehrter, Baron Professor Dr. Veit von Bielow-Altrippen, einer der Protagonisten, als Agnostiker bezeichnet, meint er genau dies: Fragen der Religion, des Glaubens, interessieren ihn nicht; er stellt sich nicht einmal die Frage nach einer möglichen Existenz Gottes. Was wohl die einzig mögliche Art darstellt, Agnostizismus überhaupt zu leben.)

Damit sind wir schon mitten im Roman. Raabe hat ihn in vieler Hinsicht dichotomisch strukturiert. Wir haben oben schon eine der grundlegenden Dichotomien erwähnt, die Teilung der Romanwelt in zwei Gebiete, die nicht nur geografisch getrennt sind (das Dorf liegt oben am Berg, das Kurhaus der mondänen Welt unten im Tal), sondern auch ökonomisch (traditionelle Werte und Handwerk gegen Nichts-Tun des reichen Adels, der von seinen Renten lebt), ja religiös: oben eine traditionelle Religion (die nicht zu 100 % christlich ist!) gegenüber völligem Wegschieben religiöser Fragen unten. Selbst in seinem Aufbau folgt der Roman als Ganzes einer Dichotomie, indem die erste Hälfte oben im Dorf spielt, die zweite dann unten im Tal.

Doch die Dichotomien gehen tiefer. Das Dorf stellt keineswegs einen kompakten Block dar – auch es ist gespalten. Da finden wir einen großen Teil der Gemeinschaft, die der Meinung ist, Anna, die gerade verstorbene Frau des verrufenen Wilddiebs und Zuchthäuslers Volkmar Fuchs, müsse auf dem Friedhof bei den übrigen Dorfbewohnern beerdigt werden. Volkmar Fuchs aber weigert sich mit Händen und Füssen, bzw. mit Axt und Revolver. Nicht nur hat man ihn psychologisch gebrandmarkt und aus der Gemeinschaft ausgestoßen, auch geografisch wurde die Familie in den Wald verbannt, als sich herausstellte, dass Anna Fuchs, genannt Fee (nicht das Fabelwesen sondern eine spezielle Rechtschreibung des Wortes ‚Fähe‘, also ‚Füchsin‘), an Fleckfieber (Typhus) erkrankt war. (Später im Roman werden wir dasselbe noch einmal, aber gespiegelt, erleben: Als Veit von Bielow ebenfalls an Typhus erkrankt, aber unten im Kurhaus, wird er zwar auch separiert, aber gleichzeitig reist praktisch die ganze mondäne Gesellschaft ab und lässt ihn alleine zurück.)

Das Gegenstück zum mondänen Agnostiker Bielow stellt Phöbe Hahnemeyer dar, die Schwester und Haushälterin des Dorfpfarrers und vormalige Idiotenlehrerin, sprich: verantwortlich für Betreuung und Erziehung von geistig behinderten Kindern in einem speziellen Heim. Sie steht als einzige im Roman stark und fest in ihrem christlichen Glauben (scheint es mindestens). Selbst ihr Bruder, der Pfarrer, ist dichotomisch zu seiner Schwester gestellt. Denn er zweifelt. Er zweifelt am Christentum und an seiner eigenen Befähigung / Berufung zum Pfarrer. Doch nichts ist in diesem Roman so einfach wie es scheint. Im Vornamen der glaubensstarken Schwester finden wir (und finden auch die Protagonisten) wiederum eine Dichotomie: Einerseits ist ‚Phöbe‘ die ‚Leuchtende‘, eine Titanin der griechischen (also aus christlicher Sicht heidnischen = säkularen) Mythologie, andererseits aber gibt es auch eine frühchristliche Diakonissin, die von Paulus im Römerbrief erwähnt wird, und auf die sich Phöbe Hahnemeyer natürlich beruft. Wenn wir noch hinzu nehmen, dass Veit von Bielow und der Pfarrer Hahnemeyer alte Studienfreunde sind, die sich unterdessen völlig auseinander gelebt haben – selbst über das Öffnen des Fensters vom pfarrherrlichen Arbeitszimmer sind sie gegensätzlicher Meinung –, sehen wir, wie komplex in ihren Dichotomien die von Raabe gezeichneten Beziehungen unter seinen Figuren sind. (Es gibt noch mehr, zum Beispiel zwischen einem Zimmermann und Veit Fuchs, dem gleichen Zimmermann (einem Sozialisten) und Veit von Bielow (vom Zimmermann als Gentleman-Sozialist abgetan) etc. etc.)

Der Roman kennt kein Happy Ending, wenn man darunter versteht, das zwei sich finden und heiraten. Denn obwohl Raabe eine gewisse Attraktion zwischen Phöbe und Veit andeutet, gibt es ebenso viel, das die beiden von einander wegstößt. Phöbe ist neben einer alten Frau die einzige, die den auf den Tod erkrankten und hoch ansteckenden Baron pflegt. Dennoch wird er, wundersamer Weise genesen, abreisen und später eine der jungen mondänen Damen heiraten, die wir im Bad angetroffen haben. Der Roman endet damit, dass er an seinen Jugendfreund als Flitterwöchner einen Brief aus Sizilien schreibt. Doch der da schreibt, distanziert sich nun von seinen Handlungen während seines Aufenthaltes und bedauert Phöbe ob ihres Lebens. Diese wiederum, der ihr Bruder den Brief zum Lesen gegeben hat, zieht sich zur Lektüre in ihr Zimmer zurück. Der Roman endet mit der Frage, wo denn nun Phöbe nach dem Lesen mit ihren Gedanken sei und gibt zur Antwort, sie befinde sich bei ihren Kindern (also ihren Zöglingen im Heim), die sie gerade zur Ruhe ruft:

»Daß mir keines den Reigen stört; sonst muß ich böse werden!«

Und somit fällt auch Phöbe aus der Rolle, denn solche Sätze gehörten damals zum Standard einer fortgeschrittenen, bürgerlich-aufgeklärten Pädagogik. Ihre religiös-christliche Rüstung hat Risse erhalten, und so ist die letzte Dichotomie, die uns Raabe in seinem Roman nur noch erahnen lässt, die zwischen dem gefassten, christlich-demütigen Äußeren Phöbes und ihren eigentlichen, eher weltlich gerichteten Wünschen und Enttäuschungen.

Wenn wir dann noch lesen, dass Veit zwar den Typhus überlebt, aber seine Hochzeitsreise de facto als Invalider angetreten hat und in Palermo kaum die paar Schritte auf sein Hotelzimmer schafft, können wir den Roman nur so zusammen fassen, dass Raabe uns hier das Schicksal dreier lebensuntüchtiger Menschen beschreibt.

Raabes Roman wurde 1884 geschrieben und erschien 1885 als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Die Gartenlaube. Das ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zum einen, weil sich der Autor trotz der Veröffentlichungsweise in Fortsetzungen weigerte, seiner Erzählung die üblichen Charakteristika eines Fortsetzungsromans zu geben, zum Beispiel mit Cliffhangern am Ende eines jeden Kapitels. Aber auch sprachlich hielt er sich nicht an die ansonsten für diese Zeitschrift geltenden Konventionen. Obwohl der Herausgeber der Gartenlaube einiges an Fremdwörtern verdeutschen ließ, sind immer noch sehr viele vorhanden. Die Personen wie auch der auktoriale Erzähler verwenden einiges an Begriffen, die das durchschnittliche Publikum der Gartenlaube nicht unbedingt verstanden haben wird.

Womit wir auf eine allerletzte Dichotomie treffen. Der Autor hält nach wie vor am bildungsbürgerlichen Anspruch fest, ebenso diejenigen seiner Figuren, die dazu bevollmächtigt sind durch Herkommen und Bildung. Wenn wir die Ausgangslage der Unruhigen Gäste sehr stark schematisieren, finden wir Folgendes: Ein ausgegrenzter und zum Verbrecher gewordener Außenseiter wird wieder eingefangen und in die Gemeinschaft integriert. Treibende Kraft hierbei sind Pädagogen (Lehrer) und Pfarrer. Das ist auch die Ausgangssituation einer anderen kurzen Geschichte Raabes: Horacker von 1876. Nur sind dort die tätigen Lehrer und Pfarrer, die auch noch viel mehr mit bildungsbürgerlichem Wissen um sich schlagen, erfolgreich, weil letztlich in ihrem Wesen noch ganz, unangetastet, denn sie sind noch Humor vor dem geschützt, was Raabe nunmehr das Säkulum nennt. Hier, im neun Jahre jüngeren Text, erleben wir, wie das Bildungsbürgerliche zwar immer noch vorhanden ist und die Protagonisten versuchen, es zu behaupten. Aber die Risse, die Dichotomien, sind größer geworden und Raabe ist keineswegs Hegelianer. Es gibt für ihn zwischen These (dem bildungsbürgerlichen Idealismus) und Antithese (der harten Realität) keine Synthese mehr, keine Aufhebung der Gegensätze im Humor mehr. Das Bildungsbürgertum ist gescheitert.


Wilhelm Raabe: Unruhige Gäste. Ein Roman aus dem Säkulum. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Rolf Parr. Göttingen: Wallstein, 2024.

Der Band ist Teil einer Werkausgabe, die sich kritische kommentierte nennt, ohne zu erklären, wie wir dies zu verstehen hätten. Sollen wir darunter eine ‚kritisch kommentierte‘ verstehen (und was wäre dann dies?) oder doch eher eine ‚kritische, kommentierte‘? Allerdings will Parr hier ganz explizit keine kritische Ausgabe liefern, dafür verweist er auf die große Werkausgabe (die so genannte ‚Braunschweiger‘ Ausgabe). Was ist dann aber mit ‚kritisch‘ genau gemeint? ‚Kritik‘ im Sinne einer Literaturkritik, die aber, wenn ich mir Parrs Nachwort anschaue, eher eine Literaturwissenschaft ist? Ich bin ja überglücklich darüber, dass hier eine preisgünstige Werkausgabe Raabes gewagt wird, die dazu noch mit einigen der weniger bekannten Texte des viel zu sehr vernachlässigten Autors beginnt. Aber warum wird sie nicht einfach als ‚kommentiert‘ angepriesen?

Je nun. Freuen wir uns, dass es sie gibt.

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