Rationalismus? Skeptizismus? Oder doch Fideismus? Auch nach beinahe 700 Seiten Lektüre im Historischen und kritischen Wörterbuch von Pierre Bayle wüsste ich nicht, welches ‚System‘ ich dem Autor zuordnen sollte, wenn es denn nur ein einziges sein dürfte. Denn Bayle scheint gar fürchterlich zu schwanken.
Dabei galt Bayle schon sehr rasch als früher Aufklärer. Vor allem die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts betrachtete ihn als ihren Altvater. Und es stimmt ja auch: Sie wäre ohne ihn, ohne die Rezeption seines Wörterbuchs, nicht denkbar. Die beiden Enzyklopädisten Diderot und D’Alembert stehen schon wegen ihrer Publikationsform ebenso in seiner Schuld wie Voltaire, der ja ebenfalls ein Wörterbuch veröffentlichte. Aber nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland fand Bayles Wörterbuch Anklang. Es fanz so zum Beispiel den Weg bis zum preußischen König Friedrich dem Großen. Es wurde unter der Ägide Gottscheds ins Deutsche übersetzt und hat so manchen Intellektuellen der Zeit beeinflusst, darunter auch Immanuel Kant; ja noch Ludwig Feuerbach setzte sich mit dem Wörterbuch auseinander. (Einzig bei Lichtenberg findet man, wenn ich den Herausgebern meiner Ausgabe glaube, einen einzigen Hinweis auf Bayle – Lichtenberg mochte ihn nicht.)
Doch Bayles Schwanken zwischen den ‚Systemen‘, ist, scheint mir, Programm. Nicht nur, weil es gegen Ende des 17. Jahrhunderts gang und gäbe war, dass religionskritische Autoren ebensolche Passagen in ihren Werken kaschierten als Einwände eines Kritikers, denen zu entgegnen sei. Diese Entgegnung aber erfolgte jeweils nicht im logisch-rationalen Diskurs, sondern im Verweis darauf, dass es Dinge gäbe zwischen Himmel und Erde, die mit dem menschlichen Verstand (Bayle gebraucht den Begriff es natürlichen Lichts) nicht korrekt analysiert und verstanden werden können, weil die menschliche Ratio solche Dinge (Fakten, Begriffe) nur niederreißen, aber nicht konstruktiv, aufbauend verstehen könne. ‚Verstehen‘ in einem weiteren Sinn könne das nur der Glaube. Man mangelte dabei nie – und auch Bayle tut es – Zitate aus den Schriften der Scholastiker, der Kirchenväter oder auch des Neuen Testaments anzuführen. Vor allem auf die Schriften des Paulus wurde gern verwiesen. (Der ja tatsächlich, wie alle religiösen Fanatiker, nebenbei gesagt, mit seinem immer wieder vorgebrachten Heruntermachen von rationaler Erkenntnis im Christentum eine Wissenschafts- und Philosophiefeindlichkeit sondergleichen in Gang gesetzt hatte, unter der das Abendland bis heute leidet.) Der Sprung in den Glauben als Maske, um Kritik an der Religion bzw. der Bibel vorbringen zu können: Dieser Trick war natürlich auch den Verfechtern eines strikten Glaubens bekannt.
Wir finden also sehr, sehr viele Passagen, die ein skeptisches Denken verraten, das die Grundlagen jeder Religion, und schon gar der christlichen, völlig niederreißt. Aber ist dieses Vorgehen bei Bayle immer und in jedem Fall der altbekannte Trick, um der Zensur und der Verurteilung durch kirchliche Behörden zu entkommen? Kleinigkeiten, Sprünge in den Glauben, wo dies von den Argumenten her nicht unbedingt notwendig gewesen wäre, veranlassen mich, zu glauben, dass es sich hier bei Bayle nicht (zumindest nicht in jedem Fall) einfach nur um diesen alten Trick gehandelt hat. Er vermittelt des öfteren den Eindruck, dass es ihm mit dem Bemühen darum, den christlichen Glauben wirklich zu retten, ernst war – sein Sprung in den Glauben also wirklich ultima ratio auch seiner eigenen Seele.
Bayles Wörterbuch ist formal sehr komplex aufgebaut. Wir finden zunächst die eigentlichen Einträge im Wörterbuch – Lemmata, die die Namen von Denkern oder religiösen bzw. philosophischen Strömungen darstellen. Diese sind meistens sehr knapp gehalten und vermitteln allgemeine, enzyklopädische Informationen. Viel wichtiger als diese Lemmata sind Bayles ausführliche Anmerkungen dazu, in Form von Fußnoten, in denen er seine eigene Philosophie entwickelt, und als Marginalien, in denen er die Anmerkungen zu den Fußnoten unterbringt. Ein kompositorisches Meisterwerk. Dabei ist es keineswegs immer so, dass die Fußnoten direkten Zusammenhang haben müssen mit dem Lemma, dem sie zugeordnet sind. Unter dem Stichwort „Spinoza“ findet man mindestens so viele Bemerkungen zum Thema Skeptizismus, wie unter „Pyrrhon von Elis“, dem Namen des Erz-Skeptikers, unter dem man sie eher erwarten würde. Aber Spinozas Pantheismus ist für Bayle offenbar nicht nur dasselbe wie Atheismus, es ist für ihn auch die höchste Form des Skeptizismus.
Auch den Rationalismus des Decartes und der Cartesianer greift Bayle an. Allerdings macht er da Einschränkungen. Im Prinzip ist der Rationalismus für Bayle auch nur eine spezielle Form des Skeptizismus; er findet aber bei Descartes zwei Dinge, die ihm gefallen. Da ist einerseits der Umstand, dass auch Descartes bei allem radikalen Zweifel letztlich auf Gott zurückgreift als Garant einer korrekten Wahrnehmung der Außenwelt (nachdem Bayle ein grausiges Bild einer Welt entworfen hat, in der das Ich nur sich selber hätte, keine Aussenwelt), ein Gott, der von Natur aus so beschaffen ist, dass er den Menschen nicht belügt und betrügt. Andererseits leugnet Descartes ebenso wie Bayle die Existenz eines Vakuums. (Bayle als Physiker und Mathematiker ist ein Kapitel für sich. Obwohl er immer wieder gegen die Scholastik und ihre Vertreter wettert, ist sein Philosophieren noch immer der scholastischen Disputationskunst verhaftet. Es gibt für ihn unhinterfragt gewisse Gesetze der Disputation und Grundlagen der Philosophie. Zu letzteren gehören zum Beispiel alle Akzidenzien, Modalitäten etc., die gemäß der alten Scholastik einem Ding inhärent waren. Somit kann er zum Beispiel die große Neuerung Newtons gar nicht erkennen, der einen Raum postulierte, der absolut abstrakt war und eben gerade keine inhärenten Eigenschaften aufwies – ein reines Koordinatensystem ohne Inhalt. Bayle glaubt, Newton mit scholastischen Argumenten widerlegt zu haben, indem er gemäß den Regeln der Disputationskunst und den seiner Meinung nach allgemein gültigen, de facto aus der scholastischen Disputationskunst stammenden Grundlagen, der Philosophie aufgezeigt zu haben glaubt, dass Newton sich selber widerspreche, wenn er gewisse Modalitäten dem Raum abspreche. Er merkt dabei nicht, dass er aus Newtons abstraktem Raum hinüber wechselt zu einem physischen Raum, wie zum Beispiel einen Zimmer oder einem Kasten. Ähnlich sind Bayles Argumente gegen den Punkt als mathematisches Konstrukt fehl geleitet. Bayles diesbezügliche Argumente zeigen sehr schön, dass er offenbar nicht anders kann, als den Punkt als eine – wenn auch winzigst kleine – räumliche Entität aufzufassen.)
Soweit die Kritik. Es gibt im Historischen und kritischen Wörterbuch aber auch viel Positives anzumerken: Bayles flammendes Plädoyer für eine Toleranz zwischen den verschiedenen christlichen Kirchen ist heute noch lesenswert, und lässt sich auch auf eine Toleranz zwischen grundverschiedenen Religionen anwenden. Vieles von dem, was die späteren Aufklärer in ihm gesehen haben, war zwar wohl eher ein produktives Missverständnis, denn in Bayle selber angelegt. Dennoch sind die Passagen, wo er als Skeptiker schreibt oder sich in den Skeptizismus hinein versetzt, nach wie vor faszinierend. Allerdings muss man sich durch einen Wust von Anmerkungen zu und Auseinandersetzungen mit Scholastikern und Kirchenvätern ebenso hindurch kämpfen, wie durch welche zu katholischen oder protestantischen Theologen seiner Zeit (auch und gerade den Jansenisten – Arnauld und Nicole sind prominente ‚Sparring-Partner‘ des Wörterbuch-Verfassers). Natürlich fehlen auch die antiken Philosophen und Schulen in dieser Liste nicht. Wer eine kleine Idee bekommen will, welche Themen und welche Autoren Bayle nur schon in meiner Auswahlausgabe behandelt hat, mag sich die unter dem Aperçu versammelten Schlagwörter anschauen. Bayle las sehr viel, zitierte sehr viel und sehr ausführlich. Dadurch wird das Wörterbuch, wie die Herausgeber meiner Ausgabe schreiben, zu einer Art kleiner, tragbarer Bibliothek.
Alles in allem, behaupte ich, ein Text, den man auch heute noch als philosophisch interessierter Mensch gelesen haben sollte.
À propos „meine Ausgabe“: Es gibt meines Wissens aktuell keine deutsche Übersetzung des gesamten Wörterbuchs. Die von Gottsched seinerzeit geleitete Ausgabe leidet offenbar an den Fehlern der Zeit – insbesondere daran, dass es damals selbstverständlich war, dass Übersetzer in den Text eingriffen oder zumindest (was hier, wie ich Gottsched kenne, ganz sicher geschehen ist) mit zusätzlichen Anmerkungen vom Autor verwendete Begriffe weichzeichnen oder abschwächen bzw. ihm sogar widersprechen. Man muss sich auf Deutsch auch runde 20 Jahre nach deren Erscheinen mit folgender Auswahlausgabe begnügen:
Pierre Bayle: Historisches und kritisches Wörterbuch. Eine Auswahl. Herausgegeben und übersetzt von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl. Hamburg: Felix Meiner, 2003 (= Philosophische Bibliothek Band 542)