Wenn man so will, hat René Descartes drei Versionen eines einzigen philosophischen Textes geschrieben. Je nach Zielpublikum und anderen äusseren Umständen hat er das Schwergewicht seiner Argumentation etwas verlagert, auch kleine Korrekturen am Inhalt als solchem angebracht.
Die Regulae ad directionem ingenii (Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft) stellen von dieser Triade die erste Version dar. (Nr. 2 ist der Discours de la méthode, Nr. 3 die Meditiationen.) Die Regulae wurden ca. 1619 begonnen, ca. 1629 aufgegeben, blieben also unvollendet und wurden erst 1701, also lange nach Descartes‘ Tod, in den Druck gegeben. Die Originalhandschrift war dabei schon längst verloren. Heute stützt man sich bei der Herausgabe der Regulae auf eine 1859 in Leibniz‘ Nachlass gefundene Abschrift der Originalhandschrift. So oder so sind von den ursprünglichen 36 Regeln nur noch deren 21 überliefert, einige davon nur bruchstückhaft.
Schon in den Regulae geht es Descartes darum, wie wir philosophisch (d.i. wissenschaftlich) korrekte Erkenntnis gewinnen können. Dafür gibt es seiner Meinung nach nur Intuition oder Deduktion. Intuition bedeutet „ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir erkennen, gar kein Zweifel zurückbleibt“ (zit. nach der Übersetzung von Heinrich Springmeyer et al., Hamburg: Meiner, 1973. = Phil. Bibl. 262a, S. 17). Es folgt von selbst, dass demnach die „Prinzipien“, also die ersten Grundsätze und Grundlagen immer intuitiv erkannt werden müssen, erst danach kann deduktiv gearbeitet werden, wobei auch dann, will mir scheinen, Descartes die Intuitition für die „bessere“ (weil schnellere und präzisere) Form des wissenschaftlich erkennenden Arbeitens hält.
Während so die ersten 12 Regeln vor allem eine wissenschaftliche Methodologie darstellen, sind die weiteren dann eher Anwendungen auf die Geometrie oder Physik seiner Zeit.
Ich denke, ohne von der Wichtigkeit der Intuition für Descartes Methodologie zu wissen, wird man seinen späteren Werken (dem Discours de la méthode und den Meditationes) nicht in allem folgen können. Ob man die Intuition allerdings so ganz à la Descartes akzeptieren kann, halte ich für äusserst fraglich. Descartes war der Meinung, den archimedischen Punkt, das Ei aus dem die Henne schlüpft, gefunden zu haben und so einem unendlichen Regress entgehen zu können. Ähnlich wird er ja noch in den Meditationen plötzlich anhalten und sagen: „Hier beginne ich, ich kann nicht anders!“ Doch, was er für einen intuitiven und ontologisch primären Anfang gehalten hat, war nichts anderes, als wohl eine von Zeit und Umständen tief verankerte Hemmschwelle, noch weiter zurückzugehen, noch weiter zu zweifeln.
Wenn ich mich recht erinnere, argumentiert Descartes in den regulae auch bereits mit dem „Evidenten“, dem unmittelbar Einsichtigen – und auch der Reduktionismus klingt bereits an, ein Reduktionismus, der vor allem für die Wissenschaftsmethodologie von großer Bedeutung war. (Das scheint mir überhaupt ein kleiner Treppenwitz der Philosophiegeschichte: Dass Descartes als Rationalist und Verteidiger Gottes der Gegenbewegung sehr viele Anregungen mit auf den Weg gab.) Der Versuch, einzig durch eine deduktive Methode zur Wahrheit zu gelangen, kann ja nur unter der Voraussetzung gelingen, dass die Prämissen unanfechtbar sind; solange das axiomatische Bemühen selbst noch der Kritik ausgesetzt ist, hilft alle strenge Deduktion nichts. Allerdings hast du m. E. genau den Punkt getroffen: Seine rationale Intuition scheitert genau dort, wo sie die mathematischen Bereiche verlässt, wobei auch die mathematische Axiome selbst 250 Jahre später einiges erdulden mussten und man heute nicht mehr sehnsüchtig die Philosophie „more geometrico“ zu betreiben sucht (wie Descartes, Spinoza und Hobbes).