Anna Stern: das alles hier, jetzt.

Ich, hier, jetzt. Mit diesen drei Ausdrücken wird das sprachlich-philosophische Zentrum des menschlichen Daseins umrissen – der Ausgangs- und Nullpunkt menschlichen Sprechens und Seins. Ich bin. Ich bin. Ich bin hier. Ich bin jetzt hier. Was immer das Individuum tut oder sagt: Es ist in dem Daseins-Raum verortet, den die drei Wörter ‘ich’, ‘hier’ und ‘jetzt’ umreißen. Ohne diesen Ausgangspunkt gibt es keine Orientierung für das Individuum. Ich, hier, jetzt.

Anna Stern hat für ihren Roman das alles hier, jetzt. dieses Jahr (2020) den Schweizer Buchpreis erhalten. Wenn ich mich recht erinnere, stand in der Begründung unter anderem, dass dieser Roman den Preis verdient habe wegen des formalen Experiments, den er darstelle. Zwei Drittel des Textes lang nämlich wird auf zwei Ebenen erzählt. Da ist eine Gegenwart, die damit einsetzt, dass die Erzählerin in einem dürren Satz den Tod von Ananke referiert:

ananke stirbt an einem montag im winter, nachmittags zwischen sechzehn und siebzehn uhr.

Die andere Ebene sind die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Ananke, die folgendermaßen einsetzen:

wir schenken uns nichts. das einzige, was wir uns geben, sind unsere namen: ananke gibt mir den namen ichor.

Die Gegenwart, die vom Tod Anankes im Februar fortschreitet in den Monat Juli, ist dabei auf der linken Buchseite mit den geraden Seitennummern festgehalten; die Erinnerungen stehen ihr gegenüber. Die Gegenwart ist mit normaler schwarzer Farbe gedruckt; die Erinnerungen sind in grauem Ton gehalten. Während die Gegenwart linear erzählt wird, ist das bei den Erinnerungen nicht unbedingt der Fall. Wenn ich mich richtig erinnere, war es vor allem oder ausschließlich diese typografische Besonderheit, die mit dem ‘formalen Experiment’ gemeint war.

Nun kommen solche Arrangements in der Literatur zwar nicht allzu häufig vor, aber ein Alleinstellungsmerkmal sind sie keineswegs. Gerade die Abgrenzung verschiedener Zeitebenen in verschiedenen Spalten ist etwas, das in ähnlicher Weise schon Arno Schmidt in ZETTEL’S TRAUM versucht hat, vor nun immerhin 50 Jahren. Schmidt war nicht so konsequent wie Stern, dafür aber hat er sogar drei Spalten verwendet – und die noch alle auf derselben Seite. Stern wiederum verzichtet ihrerseits auf die phonetisch-orthographischen Mätzchen und Verschleifungen Schmidts. Ihre orthografische Spezialität ist der völlige Verzicht auf Großbuchstaben. Substantive, Eigennamen, Satzanfang nach Punkt: Es wird alles klein geschrieben.

Doch das ist formal, bleibt an der Oberfläche des Textes und ist insofern auch banal. Sterns Roman geht aber zum Glück doch etwas tiefer: Er ist vor allem ein Spiel mit dem Ich-hier-jetzt-Origo menschlichen Selbstverständnisses, menschlicher Orientierung. Schon im Titel macht das die Autorin klar. Das ‘Ich’ des Standard-Origo wird zum das alles. Ein Ich, das mit der Welt verschmilzt – das mag als mystisches Konzept funktionieren. Im Alltag eines Menschen – zumindest der westlichen Welt – wird das zu Problemen führen. Wenn das Ich dann in einer Art höherer Funktion gar mit dem Hier verschmilzt, haben wir entsprechend eine höhere Mystik vor uns – und höhere Probleme im Alltag.

Genau das geschieht in diesem Text. Er erzählt die Geschichte einer Gruppe von Freunden, es sind deren fünf oder sieben, so genau habe ich nicht gezählt. Diese Truppe kennt sich von Kindesbeinen an, da schon die Eltern offenbar miteinander befreundet sind. Die Erzählerin spricht einmal von einerFamilie mit vier Eltern und sieben Kindern. Die Kinder wachsen gemeinsam auf, kabbeln sich, trennen sich, versöhnen sich – wie das halt so ist. Als Erwachsene driften sie auseinander – vor allem örtlich. Dennoch: Immer wieder tönt die Erzählerin ein großes Geheimnis an, oder vielleicht sind es auch mehrere. Dieses Geheimnis, etwas, das die Freunde nicht einmal Ichor erzählen, das aber auch Ichor, die ihrerseits eines mit Ananke hat, dem Leser und der Leserin nicht erzählt, und das offenbar aus irgendeiner Auseinandersetzung oder gar einem Streit besteht, durchzieht die Geschichte wie eine dunkle und gefährliche Unterströmung einen Fluss oder einen See. (Ein See kommt immer wieder vor in Ichors Erinnerungen – ich vermute dahinter Anna Sterns heimischen Bodensee.) Mit ihrem Tod aber – und wir erfahren nie, woran Ananke so früh stirbt (aus ein paar Zeitangaben im Text lässt sich schließen, dass die Truppe in etwa das Alter der Autorin hat, die 1990 geboren ist) – mit ihrem Tod also wird Ananke plötzlich das Denken und Fühlen der hinterbliebenen Freunde auf unheimliche Art dominieren. Es ist tatsächlich, wie wenn diese Fünf nie wirklich ein eigenes Ich entwickelt hätten, und nun, wo eines der Bestandteile dieses seltsamen alles hier, dieses Gruppen-Ichs (das dennoch nie zum ‘wir’ gefunden hat), nicht mehr Bestandteil ist, geraten die übrigen in einen Sog von Angst und Depression.

Das letzte Drittel des Romans ist der Schilderung gewidmet dessen, wie die hinterbliebenen Vier versuchen, die Trauer, die Angst und Depression zu bewältigen, ja, mit Gewalt loszuwerden: Sie klauen einen Oldtimer-Mercedes ihres Vermieters, der ‘Adenauer’ heißt (der Wagen, nicht dessen Besitzer), gehen nachts auf den Friedhof, buddeln Anankes Urne aus und fahren nun, mit der Urne auf dem Rücksitz, also wieder zu fünft, gegen Süden, dorthin, wo Ananke zuletzt gelebt hatte. Ob ihnen ihre Befreiung von Ananke gelingt, bleibt offen. Zumindest, ob es allen gelingt: Das Buch endet damit, dass alle außer der Erzählerin befreit und glücklich weiter bis ins meer gehen.

Das ist Mystik und das ist Kitsch, und ich bin nicht sicher, ob die Autorin hier den Kitsch ironisch eingesetzt hat oder ihn ernst meint. Denn, um ehrlich zu sein, stößt man im Roman immer wieder auf kitschige Formulierungen oder Situationen. Abgesehen davon ist so ein Schluss schlechter Stil. Es ist schlechter Stil, wenn einem nichts anderes mehr einfällt, um zu einem Ende zu kommen, als einen unwahrscheinlichen oder unmöglichen Vorfall an eine bis dahin relativ realistisch gehaltene Erzählung anzukleben. Schlechter Stil, der offenbar unter jungen Autorinnen zur Zeit grassiert; ich erinnere mich an den Schluss von Nenn mich einfach Igel der 1993 geborenen Jacqueline Thör – ein Buch aus dem Jahr 2019, das wir diesen Frühling vorgestellt haben. (Der, zugegeben, noch unrealistischer war.)

Fazit: Die Autorin ist intelligent genug, um einen cleveren Roman zu schreiben. Sie ist aber noch jung – zu jung wohl, um ihre Intelligenz nicht zeigen zu wollen. (Oh … Männer sind diesbezüglich schlimmer!) So winkt sie immer mal wieder mit Zaunpfählen – und zwar gleich mit überdimensionalen Zaunpfählen. Ein paar Beispiele: Ananke, der Name der Kinder- und Jugendgespielin – das ist die Göttin des unausweichlichen Schicksals, dem selbst die Götter unterworfen sind (und ergo auch die vier Freunde); Ichor – das ist die Bezeichnung des Bluts der Götter (Blut wird auch sonst immer wieder erwähnt), aber auch der Fachbegriff für Wundwasser (ja, die offene Wunde des Todes von Ananke); dann auch der Umstand, dass die Geschichte in der zweiten Person erzählt wird, weil die erste offenbar nicht existiert, sondern immer nur als Gegenüber gespiegelt, in einer Gruppe.

Die Offensichtlichkeit dieses Spiels mit dem Ich-hier-jetzt-Origo, das formal-typografische Experiment (das in seinen Grundlagen auch schon 50 Jahre alt ist) mag sogar Berechnung sein – wir wissen alle, dass LiteraturkritikerInnen und -wissenschaftlerInnen so etwas mögen. JurorInnen von Literaturpreisen auch. Das Buch gewann den Schweizer Buchpreis, nachdem die Autorin mit anderen Büchern schon bei anderen Wettbewerben reüssierte, u.a. bei einem Nebenpreis 2018 des Ingeborg-Bachmann-Preises. Sie scheint also den Geschmack von JurorInnen treffen zu können. Wie schon bei anderen Büchern muss ich auch hier zugeben, dass der Teil von mir, der selber einmal eine literaturwissenschaftliche Ausbildung genossen hat, diese Art von Spiel mag. Allerdings mag ich es noch lieber, wenn es weniger offensichtlich gespielt wird. Und ich bezweifle, offen gesagt, dass dieses Spiel den doch beschränkten Rahmen eines Publikums von LiteraturkritikerInnen und -wissenschaftlerInnen zu sprengen vermag. Es gibt so etwas wie eine Literatur für die Literaturkritik …

(Der deutsche wie der Schweizer Buchpreis sind dieses Jahr übrigens beide fest in Frauenhand. Und auch die Gewinnerin des deutschen Buchpreises, Anne Weber mit Anette, ein Heldinnenepos soll ja mit ihrem Werk ein formales Experiment eingegangen sein. Formale Experimente interessieren mich; auch wenn ich weiß, dass die meisten davon nicht so wirklich glücken. Ich werde berichten.

Anna Stern – um das klar zu sagen – halte ich nicht für völlig missglückt. Die Autorin hat Potenzial; sie muss es nur noch ganz ausschöpfen. Für ihrerseits experimentierfreudige LeserInnen kann ich das Buch sogar empfehlen.)

Zum Schluss aber doch noch das Beispiel eines Zaunpfahls (es gibt mehr solche Stellen im Text, viele davon sind tatsächlich mit Ginsburg, dem Psychotherapeuten der Erzählerin, verknüpft, der die Rolle des Erklärbären nicht nur für seine Patientin inne hat, sondern – weil seine Statements ja weiter gegeben werden – auch fürs Publikum):

ginsburg sagt, du sehnst dich danach, dich zurückzuziehen, an den ort, den es nicht gibt, der nur zwischen euch [Ananke und der Erzählerin] existiert. dich überfordert die erdrückende vorstellung der infiniten gleichzeitigkeit, die tatsache, dass nicht nur du jetzt hier bist, sondern dass zugleich sieben milliarden andere ichs anderswo, dass es nachts ist andernorts, während du im schatten sitzt und dem spiel des lichts auf dem wasser zuschaust.


Anna Stern: das alles hier, jetzt. Zürich: Elster und Salis, 12020.

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