Daniel Defoe: Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge

Geschichte zeichnet sich dadurch aus, dass die Menschheit nichts aus ihr lernt. Spätestens die dritte Generation wird die Lehren, die die vorhergehenden beiden aus einem geschichtlichen Ereignis gezogen haben, komplett bei Seite setzen. Und spätestens die vierte hat das Ereignis vergessen bzw., es ist für diese Generation nur noch Buchstabe auf Papier, sinnloses Zeug, das man in der Schule auswendig lernen muss. Es bleibt der eigene Egoismus, der einen bestenfalls an die nachfolgende Generation denken lässt („Unsere Kinder sollen es einmal besser haben als wir!“ – Wobei sich dieses „besser“ auf einen äußerst beschränkten Horizont bezieht, den die folgende Generation meistens explizit oder implizit ablehnt.)

Ob es gegen diese Geschichtsmüdigkeit ein Heilmittel gibt, weiß ich nicht. Ich weiß, dass nur eine solche Geschichtsmüdigkeit erklären kann, warum sich niemand ein warnendes Beispiel am Schicksal der Ururgroßeltern oder noch weiter zurückliegender Vorfahren nimmt. Insofern halte ich das vorliegende Büchlein zwar für hochaktuell, glaube aber nicht, dass irgendwer in Europa oder den USA aus diesem Essay aus dem Jahre 1709 irgendwelche Lehren ziehen wird. (Zum Beispiel die sehr simple, dass auch meine Nachfahren eines Tages wieder Flüchtlinge sein werden, die darauf angewiesen sind, dass ihr ‚Gastland‘ sie anständig behandelt.)

1709 nämlich trifft (ein weiteres Mal) eine große Menge an Flüchtlingen in England ein. Diese Flüchtlinge kommen aus jener Gegend in Deutschland, die auf der andern Seite des Ärmelkanals einfach ‚die Pfalz‘ genannt wird, und in etwa dem deutschsprachigen Unterrhein entspricht. Über die Gründe der Flucht sind sich die zeitgenössischen Beobachter in England uneins. Sind es Protestanten, die gewaltsam unter katholische Herrschaft geraten sind und nun fliehen? Sind es Leute, die bereits zwangsweise katholisiert wurden? (Dann könnten sie, so die Idee, gleich nochmals konvertieren, diesmal zur anglikanischen Kirche.)

Eigentlich betrachteten die meisten dieser Flüchtlinge Großbritannien nur als Durchgangsstation. Sie wollten weiter ziehen, in die nordamerikanischen Kolonien, wo jede Menge Platz für sie gewesen wäre. Nur: Es fuhren 1709 keine Schiffe mehr dorthin. Großbritannien steckte gerade im Spanischen Erbfolgekrieg – die Chance, dass Schiffe unterwegs gekapert worden wären, war groß. Und Kriegsschiffe für ein Geleit hatte Großbritannien nicht übrig. Die Schlepper, die ihnen ein Leben in den Kolonien versprochen hatten, konnten ihr Versprechen nicht halten. Die Flüchtlinge blieben in England stecken, wo sie keiner gewollt hatte. Und wo sie selber nicht hin gewollt hatten.

Aber ob man nun auf beiden Seiten wollte oder nicht: Diese Leute waren nun einmal in England gestrandet, und irgendetwas musste unternommen werden. Daniel Defoe war auf der Seite der (gerade abtretenden) Regierung, die etwas unternehmen wollte. Er weist darauf hin, dass es sich bei den Flüchtlingen um ehemalige Untertanen jenes Fürsten handelt, der die im englischen Volk sehr beliebte Tochter von König Jakob I., Elisabeth Stuart, geheiratet hatte, und deren Tochter wiederum durch den Act of Settlement von 1701 (der die katholischen Stuarts ein für alle Mal von der Thronfolge ausschloss) designierte Thronfolgerin der britischen Monarchie war: Sophie von der Pfalz. (Es sollte dann allerdings erst ihr Sohn sein, Herzog Georg Ludwig von Braunschweig-Lüneburg, der als George I den Thron bestieg.)

Jedenfalls appelliert Defoe zum einen an die Sentimentalität der Briten. Auf der anderen, wichtigeren Seite aber versucht er nachzuweisen, dass es für die britische Wirtschaft nur positiv sein könne, wenn man die Flüchtlinge so rasch wie möglich zu integrieren suche. So und so viele vakante Stellen wären zu besetzen; und nur schon die Flüchtlinge selber für sich sorgen zu lassen, würde so und so viel Arbeitsstellen generieren und die Wirtschaft ankurbeln. (Etwas, das sich bis heute in den Köpfen der Leute – auch und gerade der Leute an den politischen Schalthebeln – nicht durchgesetzt hat, die versuchen, jedwede Integration, nicht nur in den Arbeitsmarkt, möglichst zu unterbinden. Und sich dann aufregen, wenn sich die Flüchtlinge tatsächlich nicht integrieren…) Defoe weist explizit darauf hin, dass in ähnlichen Fällen solch ein ‚Intergrationsexperiment‘ vor kurzem erst in Holland und in Preußen geglückt sei, jeweils sehr zum Vorteil des Staats wie der Flüchtlinge.

Den Schluss macht eine Aufzählung Defoes davon, was Privatleute schon alles zur Hilfe geleistet haben, mit dem Aufruf an die Politik, auf dem Weg der Integration fortzufahren. Mutatis mutandis sollte diese kleine Schrift jedem Politiker zur Lektüre empfohlen werden. Aber eben: Die Menschheit wird auch aus dieser Geschichte nichts lernen. Und dass Politiker einen über 300 Jahre alten Text überhaupt zur Kenntnis nehmen, halte ich für illusorisch. Auch wenn sein Thema hochaktuell ist.


Das Büchlein ist, mit einem Vorwort von John Robert Moore und in der Übersetzung von Heide Lipecky, ursprünglich 2017 bei dtv erschienen; vor mir liegt eine Lizenzausgabe von 2019 für die Büchergilde.

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