Robert Musil: Bücher I

Nun hat es also auch diese kritische Werkausgabe erwischt. Sechs lange Bände, den ganzen Mann ohne Eigenschaften hindurch, sah es so aus, als ob die neue, von Walter Fanta herausgegebene Musil-Ausgabe durchlaufen würde, wie ein heißes Messer durch Butter. Doch nun dies: Beim Auspacken von Band 7 blickte mich nicht – wie noch im Anhang von Band 6 aufgeführt – ein Band mit Titel und Inhalt Selbständige Veröffentlichungen an, sondern einer, der sich nun Bücher I nennt. Warum die selbständigen Veröffentlichungen plötzlich Bücher heißen und auf zwei Bände aufgeteilt wurden, erfährt der Leser weder aus dem Buch selber, noch aus der die Edition begleitenden Internet-Seite „Musilonline.at“. (Die Internet-Seite hört überhaupt mit dem Kommentar bei Band 4 auf…) Jedenfalls sollen nun offenbar auch die Bände 8 und 9 – die zu 9 und 10 werden – nicht mehr Unselbständige Veröffentlichungen 1 + 2 heißen, sondern In Zeitungen und Zeitschriften I + II. (Warum man nicht zumindest die arabische Nummerierung des Mannes ohne Eigenschaften beibehalten hat, wissen die Götter.) Der ursprüngliche Band 10, Fragmente aus dem Nachlass, wird offenbar zu Band 11 und 12: Projekte I + II. Die ursprünglichen 11 (Tagebuchhefte) und 12 (Briefe) erscheinen nach aktuellem Stand der Dinge außerhalb der Reihe der 12 Bände. Das ist dem Sammler höchst ärgerlich, vor allem, wenn er keine Gründe für die Änderung erfährt.

Nun zu Band 7: Die Bücher werden – mit Ausnahme des Mannes ohne Eigenschaften natürlich – chronologisch eingestellt. So enthält Band 7 die ersten drei selbständig veröffentlichten Werke Musils: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), Musils Dissertation bei Carl Stumpf über Ernst Mach (1908) und zwei Novellen, die zusammengefasst als Vereinigungen 1911 erschienen. Für mich heißt das auch, vom noch Bekannten zum vom Hören-Sagen Bekannten schließlich zum völlig Unbekannten zu gehen. Denn außer dem Mann ohne Eigenschaften und den Verwirrungen hatte ich bisher nichts von Musil gelesen, von der Dissertation zwar gewusst, aber auch sie nicht gelesen.

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß

Das – Musil sehr wichtige – Motto von Maeterlinck gleich zu Beginn gibt im Grunde genommen den Takt für den ganzen Roman vor. Die Suche nach etwas Tiefem, Bedeutenden, das – wenn man es aus der Tiefe an die Oberfläche gebracht hat – nicht mehr dem Meere, dem [es] entkommt, gleicht. Törleß selber wird im Roman gleich zweimal daran scheitern, dieses Tiefe und Bedeutende, das er spürt, an die bewusste Oberfläche seines Denkens und Wesens zu bringen. Da ist zuerst die Sache mit √-1, die ihn derart aufwühlt, dass er um einen Termin beim Mathematik-Lehrer anhält. Der kann ihm das Ganze allerdings auch nicht so erklären, dass Törleß’ Sucht nach dem tieferen Bedeutung gestillt wird. Einzig wird er ihn auf Kant hinweisen (offenbar auf dessen ‘Ding an sich’ und damit auf die Kritik der reinen Vernunft). Törleß besorgt sich das Werk, aber schon nach zwei oder drei Seiten muss er aufgeben. Die Geschichte mit Basani ist für Törleß ein anderer Versuch, diesem geahnten Tiefen und Bedeutenden auf die Spur zu kommen. Auch dieser Versuch wird scheitern. Der Erzähler rechnet diese sadistisch-masochistisch-homosexuelle Phase Törleß als notwendigen, nun aber abgeschlossenen Jahresring in seiner Entwicklung an. À propos „Masochismus“: In seiner merkwürdig schwülen Atmosphäre erinnert der Roman in vielem an Sacher-Masochs Venus im Pelz, nur sind dort die Ereignisse heterosexuell, während Basani – warum auch immer – ein homosexueller Masochist zu sein scheint. Er wird der Anstalt verwiesen, und damit verlässt ihn der Roman, obwohl er die interessantere Figur wäre, als der Quasi-Intellektuelle Törleß.

(Alfred Kerr hatte maßgeblichen Anteil daran, dass die Verwirrungen überhaupt veröffentlicht wurden. Dafür, dass er – wie er selber rühmte – mit Musil praktisch Wort für Wort durchgegangen sei, finden wir allerdings bei Musil keine Hinweise.)

Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs

Die Dissertation ist gleichzeitig mit den Verwirrungen entstanden, aber später veröffentlicht worden, da der Doktorvater, Carl Stumpf, an der ersten Version noch einige Änderungen angebracht sehen wollte. (Die erste Version scheint leider nicht mehr zu existieren; sie könnte unter Umständen die Verwirrungen entwirren helfen.) Grob gesagt, widerspricht hier Musil Machs Sensualismus (Musil spricht von Positivismus), indem er daran festhält, dass es etwas hinter den Sinneswahrnehmungen geben muss. Dieses Etwas wird mehr oder weniger unverblümt mit der Kunst, allen voran die Dichtung, identifiziert, bzw. als nur der Kunst zugänglich angedeutet. (Der Einfluss weniger von David Hume, mehr von Ralph Waldo Emerson und Eduard von Hartmann wird hier sehr deutlich.)

Vereinigungen

Der Herausgeber Walter Fanta nennt die beiden im Buch Vereinigungen zusammen gestellten Novellen esoterisch, im Sinne einer Lehre, die nur Eingeweihten zugänglich ist. Das ist die Formulierung, die man verwenden muss, wenn man Musil wohlgesinnt ist. Tatsächlich strotzen beide Novellen an Vergleichen. Kleine Handlungen, Gesten, Dinge oder Menschen werden immer wieder verglichen mit etwas völlig anderem. Diese Vergleiche werden in der Regel als Nebensätze eingeführt, mit der Konjunktion „als ob“. Ich weiß nicht, ob Musil Hans Vaihinger kannte, aber man könnte hier sehr wohl von zwei „Novellen des Als-Ob“ sprechen, wie von Vaihingers Philosophie als einer „Philosophie des Als-Ob“. (Neben „als ob“ wird auch ganz einfach „als“ verwendet, „wie wenn“ oder auch nur „wie“. Im Schnitt wird jeder fünfte Satz mit einem dieser „Als-ob“-Nebensätze ergänzt. Der Nebensatz kann im Konjunktiv stehen oder im Indikativ – an der Abgehobenheit vieler Vergleiche ändert das nichts.)

Esoterisch? Ich würde eher von sehr schlechtem Stil reden. Musil wollte ganz eindeutig zu viel in die belanglosen Geschichten verpacken, die er da erzählt. Esoterisch? Man kann es auch Kitsch nennen.

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