Alexander Gottlieb Baumgarten: Anfangsgründe der praktischen Metaphysik

Man hätte, so der Herausgeber und Übersetzer Alexander Aichele, Baumgartens Initia Philosophiae Practicae auch mit Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten der mit den freien Handlungen verbundenen Dinge übersetzen können, oder mit Praktische Ontologie. Dass nun der Begriff der praktischen Metaphysik gewählt wurde, hängt mit der philosophiegeschichtlichen Einbettung von Baumgartens 1760 erschienenem Text zusammen.

Da ist nämlich zu Beginn des 18. Jahrhunderts Christian Wolffs Philosophia practica universalis mathematica methodo conscripta erschienen. Wolff war der große Systematiker der deutschen Philosophie. Praktische Philosophie definiert er in seinem Text von 1703 wie folgt: “Allgemeine praktische Philosophie“ ist die praktische affektive Wissenschaft, die freien Handlungen durch gemeinste Regeln anzuleiten. „Affektiv“ ist dabei die Wissenschaft von der Bestimmung des Willens und Nicht-Willens zu ihren Verwirklichungen. Die Bedingung der Möglichkeit eines freien Willens also, und der moralischen Beurteilung der daraus resultierenden Handlungen. Und vor allem: Philosophie nicht nur als handlungs-beschreibende, sondern als handlungs-anleitende Wissenschaft. Dazu gehört, die einer Handlung zu Grunde liegenden Motive klären zu können.

Baumgarten präzisiert Wolffs Theorie einerseits, will sich andererseits auf eine bestmögliche Klärung des Begriffs des „Wahren“ beschränken – ein seiner Meinung nach unumgänglicher Vorgang, da die einer Handlung zu Grunde liegenden Motive oft vielfältig sein können und sogar sich untereinander widersprechend. Die Eruierung des „wahren Motivs“ einer Handlung ist da unumgänglich. Daraus soll sich eine genügend gründliche Wissenschaft von den natürlichen Rechten ergeben. Auch wenn Baumgarten also immer wieder auf Gott zurückgreift, versucht er in dieser seiner Rechtsphilosophie darauf zu verzichten, menschliche Rechten und Pflichten, bzw. menschliche Taten durch einen Rückgriff auf göttliche Ge- und Verbote zu begründen. Nach Baumgartens Meinung ist es das Belieben, das als Motiv die Bestimmungsgründe zum Vollzug freier Handlungen da steht. Der Mensch wägt im Angesicht einander widerstreitender Motive ab, welchem er nachgeben soll. Das geschieht nicht rein additiv: Jedes Motiv wird erst gesondert ‚quantitativ‘ gewogen, dann aber werden Motive auch ‚qualitativ‘ erwogen, d.h., in Beziehung zu einander gesetzt und priorisiert. Das Ganze ist theoretisch ein rationales Vorgehen. Baumgarten gibt aber zu, dass nicht nur die ‚obere‘ rationale Erkenntnis bei der Beurteilung der Motive eine Rolle spielt, sondern auch die Erkenntnis der ‚unteren‘, sinnlichen Erkenntnisvermögen. (Das, was er Ästhetik nannte.) Dieses ganze komplexe Beziehungsgeflecht wird von Baumgarten in 205 Paragraphen erläutert und analysiert, bis er zuletzt bei einer Beurteilung der menschlichen Handlungen nicht nur durch Dritte landet, sondern bei einer Eigenanalyse, die er Gewissen nennt – etwas, das im ständigen Kampf zwischen dem oberen und dem unteren Begehrungsvermögen steht. Diesen Kampf genauer darzustellen aber überschreitet in Baumgartens Meinung die Grenzen dessen, was er als praktische Philosophie anschaut. Hier bricht er also ab.

Baumgartens Anfangsgründe der praktischen Metaphysik sind philosophiegeschichtlich von Relevanz durch die Aufnahme und Weiterführung, die sie in Kants Metaphysik der Sitten fanden, in denen der alte Mann in Königsberg nicht nur Wolff kritisch rezipierte und verbesserte, sondern ebenso Baumgarten. Kant will in seinem Werk die disziplinäre Heterogenität ausmerzen, die die Moralphilosophie vor allem bei Wolff ausweist. Weg von den Bedingungen menschlichen Wollens und hin zu den Prinzipien eines möglichen reinen Willens. Wenn sich Kant gegen Wolff wendet, tut er dies – zumindest auf dem Gebiet der praktischen Philosophie – indem er auf Baumgartens Begriffsbestimmungen und deren Anordnung zurückgreift.

Baumgartens Anfangsgründe der praktischen Metaphysik stellt einen für heutige Gepflogenheiten schwer zu lesenden Text dar. Die auch von ihm verfolgte „mathematische Methode“ – die im Grundsatz eine konsequente Durchführung der aristotelischen Logik zur Begriffsbestimmung ist – verlangt einiges. Baumgarten umschreibt kaum, gibt kaum Beispiele. Erschwerend kommt hinzu, dass das oftmals schon selber komplizierte Latein der damaligen Zeit in ein nicht einfacheres Deutsch übersetzt werden musste. Die häufigen Verweise Baumgartens auf Paragraphen seiner allgemeinen Metaphysik von 1757 sind in der vorliegenden Ausgabe dahingehend aufgelöst, dass die Paragraphen, auf die Baumgarten verweist, in einer Fussnote (sowohl im lateinischen wie im deutschen Text) zitiert werden.

Ein auch heute noch grundlegender Text zur Rechtsphilosophie.


Alexander Gottlieb Baumgarten: Anfangsgründe der praktischen Metaphysik. Vorlesung. Übersetzt und herausgegeben von Alexander Aichele. Lateinisch – Deutsch. Hamburg: Felix Meiner, 2019. (Lizenzausgabe für die Wissenschaftliche Buchgesellschaft)

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