Carl Gustav Hempel: Philosophie der Naturwissenschaften

Hempel gehört zu den zahlreichen zur Emigration gezwungenen Philosophen, die die Ideen des Wiener Kreises in aller Welt verbreiteten und Vorreiter der analytischen Philosophie wurden. Bekannt wurde sein Name durch das nach ihm und seinem Kollegen Paul Oppenheim benannte H-O-Schema, durch das kausale Zusammenhänge in der Wissenschaft formal strukturiert wurden.

Dieses Schema wird im vorliegenden Buch recht ausführlich behandelt (nicht nur das deduktiv-nomologische, sondern auch das sehr viel problematischere induktiv-probabilistische Modell). Dabei gelingt es Hempel ausgezeichnet, die an sich recht sperrige Materie anschaulich darzustellen (das Buch eignet sich als Einführung für mit der Materie befasste Philosophiestudenten). Neben dieser gelungenen Darstellung (wobei auf fast alle Schwierigkeiten dieser formalen Behandlung von Wissenschaft eingegangen wird, insbesondere auf die Problematik des Wahrheitsgehaltes der Schlüsse) fiel mir beim Lesen insbesondere die vorsichtige und zurückhaltende Art und Weise der Behandlung des Themas auf. Wohl deshalb, weil ich gleichzeitig in Poppers „Vermutungen und Widerlegungen“ lese: Von der Thematik her sehr ähnlich, aber der selbstgefällige Anspruch Poppers, diverse Probleme der Philosophie „gelöst“ zu haben (wobei ich dem Kritischen Rationalismus durchaus hohe Anerkennung zolle), seine Betonung der eigenen Person (er verwendet – wenn mich die Erinnerung nicht trügt – in keinem seiner Bücher den Pluralis auctoris, wie er ansonsten die Regel ist) machte mir den Unterschied zwischen den Büchern deutlich: Während Hempel bescheiden bleibt, Lösungssätze andeutet und skizziert, schreit Popper sein „habe ICH gelöst“ hinaus und verzettelt sich in formalen Beweisen, die sich häufig als höchst unzulänglich erwiesen (Herbert Keuth hat sich um derartige Widerlegungen verdient gemacht). Da Poppers Werke zumeist eine Zweit- (oder Dritt-, Viert-) Lektüre sind, scheine ich auf die Form seiner Darlegungen im Alter zunehmend allergisch zu reagieren, in früheren Jahren hat mich das offenbar weniger gestört.

Hempels Buch hingegen ist eine sehr angenehme, anregende Lektüre – noch immer. Denn das Original in englischer Sprache erschien im Jahre 1966 und ist somit doch etwas angejahrt: Einzelne Aspekte wurden von Wolfgang Stegmüller vertieft und ausgearbeitet (auch diese Bücher sind schon ins Alter gekommen), grosso modo sind die Ausführungen aber immer noch aktuell. Die ausführliche Behandlung des Operationalismus würde in der vorliegenden Form heute so nicht mehr vorgenommen werden (seine damalige Relevanz ist fast gänzlich verloren gegangen), der Vitalismus als Beispiel von unwissenschaftlichem Denken ist zwar gültig, allerdings heute dermaßen bedeutungslos, dass man hier wohl andere Beispiele wählen würde. (Viel könnte man in dieser Hinsicht über den damals aufkommenden Relativismus und die Postmoderne schreiben.) Ungeachtet solcher Anachronismen ein kluges und empfehlenswertes Buch.


Carl Gustav Hempel: Philosophie der Naturwissenschaften. München: DTV 1974.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert