Teil 2 endete – wenn wir einmal von dem überflüssigen und nur notdürftig mit dem Rest verbundenen Exkurs in die älteste Schrifttradition der Menschheit (nämlich das Buch Genesis) absehen – mit allgemeinen Überlegungen zum Phänomen der Erschaffung oder Erreichung von Kultur. In Teil 3 wird das nun vertieft.
Herder geht dabei geografisch vor. Er nimmt sich zunächst den eurasischen Kontinent vor (cum grano salis: die afrikanische Mittelmeerküste im Norden dieses Kontinents kann von der Entwicklung Europas über Jahrhunderte nicht getrennt werden, das weiß und berücksichtigt auch Herder). Er beginnt von seinem Standpunkt aus am anderen Ende, im Fernen Osten. Und hier zeigt sich nun rasch, dass eine Verurteilung von Rassismus im Allgemeinen im Speziellen durchaus konterkariert werden kann. Will sagen: Herder beginnt mit China (das er noch Sina buchstabiert). Dass er dort (und dann auch in Japan und in Indochina) nur Stagnation feststellt und dies vor allem auf die dort herrschenden Religionen des Konfuzianismus und des Buddhismus zurückführt, hat sicher einige Plausibilität. (Und ja: Herder weiß und schreibt es auch explizit, dass die Lehren des Konfuzius in China keine eigentliche Religion darstellen, sondern mehr ein allgemein anerkanntes Regelsystem.) Der Ton aber, in dem er über diese Länder schreibt, zeugt nicht nur von einem stark eurozentrischen Standpunkt, er zeugt vor allem auch von einer Voreingenommenheit, die einem objektiven Forscher nicht unterlaufen dürften.
Wenn er zum Beispiel erklärt, warum die chinesische Kultur nicht über einen bestimmten Punkt hinaus gekommen ist, weil da Hindernisse auftauchten, klingt das so:
Und diese Hindernisse liegen in seinem [Chinas] Charakter, im Ort seiner Wohnung und in seiner Geschichte uns klar vor Augen. Mongolischer Abkunft ist die Nation, wie ihre Bildung, ihr grober oder verschrobener Geschmack, ja selbst ihre sinnreiche Künstlichkeit und der erste Wohnsitz ihrer Cultur zeiget.
S. 9f der Originalausgabe
Mit solchen Verunglimpfungen (wie wir heute sagen würden) fährt Herder dann auch munter weiter. Wir wollen ihm zu Gute halten, dass er hier nur mehr oder weniger referiert, was seine Quellen ihm berichten und erklären. China und Japan waren zu seiner Zeit die großen Unbekannten in Asien. Nur wenige wagemutige Reisenden fanden dort Einlass, und dann waren es noch meist Missionare oder Kaufleute, die nur sahen, was sie sehen wollten bzw. konnten. Das gilt natürlich auch noch für die folgenden Kapitel über den Tibet und über Hindustan (i.e. Indien). So wundert es nicht, dass auch diese Passagen nur ein Sammelsurium grober Verstellungen und Vorurteile darstellen. Etwas besser geht es den Völkern des Zweistromlandes, den Medern und Persern. Für die Geschichte dieses Teils der Erde bleibt Herder allerdings in der Antike. Er referiert mehr oder weniger, was Herodot, Thukydides und Xenophon berichtet haben. (Es handelt sich einmal mehr um die alte Story, dass der Sieger die Geschichte schreibt, die unterlegenen Völker verlieren die ihre – und praktisch alles, was an historischen Aufzeichnungen im Zweistromland, bei den Medern und den Persern, vorhanden gewesen sein könnte, wurde spätestens vom eindringenden Islam gelöscht.) Nur zum Zoroastrismus versucht Herder, eigenes zu sagen – weiß aber im Grunde genommen viel zu wenig darüber.
Der Islam – wohl weil es sich bei ihm um eine zu späte, von der Antike nicht erfasste Bewegung handelt – ist, nebenbei bemerkt, der große Abwesende in diesem Buch. Die Hebräer hingegen füllen zumindest ein eigenes Kapitel – in dem Herder mehr oder weniger einfach die Geschichte der Juden nach dem Alten Testament referiert. Die – gelinde gesagt zwiespältige – Haltung des Christentums gegenüber den Juden ist manchmal spürbar; hier aber bemüht sich Herder zumindest, keine Vorurteile aufscheinen zu lassen. Er lässt dann aber diesbezüglich die Zügel bei der Behandlung von Phönizien, Karthago und Ägypten wieder schießen.
Sein Liebling erscheint dann im 13. Buch: das antike Griechenland. Bei der Schilderung ihrer Ursprünge sich auf Heyne stützend (und auf Homer), in der Geschichte ihrer Kunst auf Winckelmann (den er konsequent Winkelmann schreibt), geht er über in ihre Philosophie. Noch einmal umreißt er kurz die Entstehung der Wissenschaften in der Antike: Pythagoras und Aristoteles. (Sokrates kann er nicht umhin zu erwähnen; aber er scheint nicht so richtig zu wissen, was er mit diesem Unruhestifter anfangen könnte. Platon ist praktisch inexistent.) Mit seiner Liebe zu den alten Griechen und dem Gewicht, das er auf die entstehenden Naturwissenschaft dort legt, zeigt Herder – nebenbei gesagt – auch deutlich den Zusammenhang auf, der zwischen der Weimarer Klassik und der Aufklärung existiert. In der Politik schildert er die persischen Kriege der Griechen, sowie den peloponnesischen Krieg – bis hin zu jenem Moment, als Alexander der Große die vielen Stadtstaaten des griechischen Archipels unterwarf und zumindest kurzfristig zu einem einzigen Staat vereinte.
Als Herrscher über Griechenland und über die Welt folgten auf Alexander nun die Römer und damit ist das alte Griechenland für Herder Geschichte. Diese Römer aber mag Herder ganz und gar nicht. Letzten Endes sind sie für ihn kriegerische Barbaren, die nur auf Expansion aus waren, und schlussendlich von anderen Barbaren vom Thron ihrer Weltherrschaft gestürzt wurden. Allenfalls die Stoa – verkörpert in Cicero – und die lateinische Sprache auf dem, was er für den Höhepunkt ihrer Entwicklung hält (nämlich Cicero), können ihn etwas begeistern.
Interessanter wird das letzte Buch, das 15. Es enthält allgemeine geschichtsphilosophische Gedanken, wie sich die Menschheit allmählich zur Humanität entwickle. Er zeigt sich hier als optimistischer Aufklärer, der davon überzeugt ist, dass sich die Geschichte des Menschen langsam aber sicher zum Besseren entwickle.
Selbst unsere kurze Geschichte beweiset es daher schon klar, daß wir mit der wachsenden wahren Aufklärung der Völker die menschenfeindlichen sinnlosen Zerstörungen derselben sich glücklich vermindert haben. Seit Roms Untergange ist in Europa kein cultiviertes Reich mehr entstanden, das seine ganze Einrichtung auf Kriege und Eroberungen gebauet hätte; denn die verheerenden Nationen der mittleren Zeiten waren rohe, wilde Völker.
S. 321 der Originalausgabe
Irgendwie bewundere ich Herders Optimismus. Wir sollten aber nicht vergessen, dass der dritte Teil der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1787 erschienen ist. Herder konnte nichts wissen vom Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg, vom bizarren Wilhelm II. und dem Ersten Weltkrieg, von Napoléon – ja sogar die Französische Revolution (die Herder an ihrem Beginn begrüßte) lag noch im Nebel der Zukunft. Ich vermute aber, dass gerade die Französische Revolution – genauer: die Entwicklung, die sie nahm – Herders im fortschreitenden Alter zunehmenden Pessimismus gefördert hat; und ich glaube, offen gesagt, nicht, dass der Herder des 19. Jahrhunderts noch in derselben Weise optimistisch in die Zukunft geblickt hätte.