Flann O’Brien: The Third Policeman [Der dritte Polizist]

Brian O’Nolan (wie Flann O’Brien im richtigen Leben hieß) hatte diesen Roman bereits 1939 fertig geschrieben, fand aber keinen Verleger dafür. Er gab es dann irgendwann 1940 auf und behauptete, das Manuskript verloren zu haben. In Tat und Wahrheit hatte er es einfach beiseite gelegt, wie zum Teil wörtlich übernommene Abschnitte in seinem fünften und letzten Roman The Dalkey Archive (Aus Dalkeys Archiven) von 1964 belegen. O’Nolan starb 1966, und ein Jahr später gelang es seiner Witwe, den Text doch noch zu veröffentlichen. Man stelle sich vor, sie hätte die Blätter dem Feuer überantwortet, wie es andere literarische Erb:innen auch schon getan haben! So haben wir, trotz des Umstands, dass die irischen und englischen Verleger am Vorabend des Zweiten Weltkriegs offenbar weder Geschmack noch Nerven hatten, diesen absurden Roman herauszubringen, heute dennoch das Vergnügen, in einem fiktiven, paradiesisch anmutenden Irland umher zu irren und komplizierte aber äußerst sinnfreie Theorien über Fahrräder aufgetischt zu erhalten oder mindestens ebenso sinnfreie Fußnoten zum Werk eines fiktiven Philosophen (oder Physikers?) namens de Selby zu lesen. (Der Roman nämlich besteht im Grunde genommen aus zwei Teilen: Den Erlebnissen eines namenlosen Ich-Erzählers in eben diesem fiktiven Irland einerseits, den in Fußnoten beigefügten Auslassungen eben dieses namenlosen Ich-Erzählers zu abstrusen Theorien eines abstrusen Philosophen namens de Selby.)

Ich will den Inhalt des Romans auch gar nicht erst nacherzählen. Daran Interessierten hilft Wikipedia gern weiter. Die Story ist bei aller Absurdität recht kohärent – und das ist das Faszinierende an ihr. Flann O’Brien gelingt es, völlig Unlogisches völlig logisch klingen zu lassen; völlig Unmögliches klingt nach harten Fakten.

Dieses Kunststück gelingt ihm meiner Meinung nach aus zwei Gründen. Zum einen ist dieses fiktive Irland zwar mit einer Physik ausgestattet, die von der in unserer Welt geltenden einigermaßen verschieden ist – aber de facto hat sie O’Brien nur ein kleines bisschen „verrückt“. Wenn der von Fahrrädern nachgerade besessene Sergeant Pluck die Theorie aufstellt, dass häufiges Radfahren, vor allem auf schlechten, holprigen Straßen, dazu führe, dass zwischen Rad und Fahrer:in Atome ausgetauscht würden, was mache, dass ein Mensch in seinem Verhalten immer mehr einem Fahrrad zu ähneln beginne und umgekehrt sein Rad immer menschenähnlicher reagiere, so ist das im Grunde genommen nur eine ein klein bisschen „verrückte“ Abwandlung dessen, das jeder Mensch mit seiner Nahrung etc. ‚fremde‘ Atome in sich aufnimmt und sich anverwandelt, sowie seinerseits ‚eigene‘ Atome ausscheidet. Wenn vom seltsamen de Selby in einer Fußnote erzählt wird, dass er Reisen (ja, Bewegung) für unmöglich gehalten habe, weil zwischen Start- und Endpunkt viele weitere Punkte liegen und zwischen je zwei beliebig nahen Punkten wieder eine Unendlichkeit an Punkten, so heißt das eigentlich nur ein mathematisches Axiom unzulässigerweise auf ein physikalisches Phänomen anwenden. De Selby liefert damit im Grunde genommen eine andere Form des berühmten Schildkröten-Paradoxons des antiken Philosophen Zenon von Elea. (Nur, dass de Selby glaubt, dies beweisen zu können, indem er auf die einzelnen Bilder auf einer Filmrolle verweist, die ebenfalls keine Bewegung zeigen, sondern immer von Punkt zu Punkt springen.)

Eine nur so leicht „verrückte“ Physik also, dass wir sie gerade noch mit der Physik in Einklang bringen können, die wir im realen Leben antreffen und anwenden, ist ein Teil von O’Briens Erzähltaktik. Der andere Teil ist der Erzähler selber. Er trägt keinen Namen (hat ihn tatsächlich vergessen), aber erzählt und handelt so, dass die gröbsten Inkonsequenzen noch logisch kohärent scheinen. Das liegt einerseits am naiven Ton, den er anschlägt, andererseits am Umstand, dass er keine ihm gegenüber aufgestellte Theorie und keine Erscheinung in Frage stellt, sondern sie klaglos als Wirklichkeit akzeptiert. So hat er zum Beispiel einen alten Nachbarn erschlagen und sucht nun in dessen Haus nach dessen Geld. Im Geheimversteck findet er aber nichts. Statt dessen sitzt plötzlich der alte Nachbar quietschlebendig neben ihm, und sie fangen an zu quatschen. Der alte Mann erzählt von einer Polizeistation gleich in der Nähe. Für den Ich-Erzähler ist es nun absolut logisch, dass er dorthin gehen will und die Polizei damit beauftragen, die schwarze Box mit dem Geld zu finden. In keiner Sekunde kommt er auf den Gedanken, dass es doch etwas seltsam sei, dass er a) neben seinem Mordopfer sitzt und mit ihm redet, während der Mann doch tot sein sollte und dass er b) in aller Naivität die Polizei damit beauftragen will, sein Diebesgut für ihn zu finden. Das Unheimlichste aber an diesem Erzähler ist die Art und Weise, wie er erzählt. Er berichtet in der Haltung und im Ton eines Mannes, der sich Jahre später an seine Taten und Erlebnisse erinnert, sie schildert und gleichzeitig kommentiert – denn die Fußnoten sind mit genauen Titelangaben und Seitenverweisen versehen, was die Arbeit eines am seinem Schreibtisch Sitzenden suggeriert. Doch dieser Blick aus einer fernen Zukunft auf sich selber in der Vergangenheit, der konstituierend ist für einen Ich-Erzähler, ist bei unserem Helden völlig fehl am Platz. Denn es wird sich zum Schluss des Romans herausstellen, dass der junge Mann gar keine Zukunft hat. Nicht einmal die eines Toten, der nachträglich seine Memoiren schreibt wie Bras Cubas im gleichnamigen Roman von Machado de Assis. Unter den Erlebnissen, die er uns schildert, kommt O’Briens Protagonist nie dazu, sich Notizen zu machen und zum Schluss wird er seine ganze Erinnerung an das, was er seit dem Mord getan hat, verlieren. (Man kann hier O’Brien Inkonsequenz vorwerfen, immerhin haben wir als Lesende ja den ganzen zusammenhängenden Text, die ganze Geschichte des Protagonisten vor uns und können einfach zurückblättern. Ein halbwegs realistischer Ich-Erzähler müsste das auch können, weil er das Manuskript ja vor sich hätte. Ich denke aber, dass O’Brien hier den Gipfel einer konsequent anmutenden Inkonsequenz des Erzählens erreicht hat: den Ich-Erzähler, der seine eigene Geschichte ‚in Wahrheit‘ gar nicht erzählen kann, weil er sie schon wieder vergessen hat.) Mit anderen Worten: Der Ich-Erzähler schafft es nicht nur, die Existenz einer „verrückten“ Physik als normal wirken zu lassen – er schafft es sogar, seine eigene Existenz und sein eigenes Erzählen als völlig normal wirken zu lassen, obwohl nach allen Regeln der Logik weder er noch sein Erzählen überhaupt sein können.

Coda: Dass O’Brien selber die ganze Qualität des Textes nicht erkannt hat, zeigt sich an jener oft zitierten Bemerkung aus einem Brief an einen Freund, dass sich sein Protagonist (ein Dieb und ein Mörder) quasi in der Hölle befinde:

that all the queer ghastly things which have been happening to him are happening in a sort of hell which he earned for the killing [Brief an William Saroyan vom 14 Februar 1940]

In der ewigen Wiederkunft des Gleichen klingt zwar Nietzsche an – deswegen ist es aber noch lange keine Hölle. Als solche wirkt sie nur auf uns Lesende, die wir einen außenstehenden, gleichsam göttlichen Standpunkt zu den geschilderten Ereignissen einnehmen. Der namenlose Protagonist, der nicht mehr weiß, dass er schon einmal in der genau gleichen Weise jene seltsame Polizeistation angesteuert hat, kann das nicht nachvollziehen. Sisyphus in der antiken Mythologie hat nicht nur eine schwere körperliche Arbeit als Strafe von den Göttern zugesprochen bekommen; seine wirkliche Bestrafung liegt darin, dass er sich auch heute ganz genau daran erinnert, schon gestern an seiner Aufgabe gescheitert zu sein. Und vorgestern. Und vorvorgestern. Und … und … und … Allerdings gibt es laut Camus auch da einen Ausweg, nämlich die Sinnlosigkeit seines Tun gerade als Selbstverwirklichung zu akzeptieren, womit nicht mehr die Situation absurd ist, sondern der Mensch. Oder, wie Camus meint: Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Dem namenlosen Protagonisten O’Briens, der seine repetitive Situation ja nicht erkennt, ist selbst dieser Ausweg versperrt, weil ihm die Einsicht in seine tatsächliche Lage fehlt. Für ihn ist sein Road Trip auch dieses Mal neu, und besonders gelitten hat er allem Anschein nach das vorher gehende Mal ja nicht. (Abgesehen davon, dass beim zweiten Anmarsch am Ende des Romans der ‚Partner in Crime‘ des Ich-Erzählers nun auch dabei ist. Schon das müsste den Ablauf zumindest in Details ändern. Aber schon Nietzsche sprach ja von der Wiederkunft des Gleichen, nicht des Selben.) Nur die Lesenden können bei O’Brien – gottleich – eine solche Einsicht in den absurden Menschen und dessen Hölle haben, sein namenloser Sisyphus nicht.

Die konsequente Inkonsequenz der Erzählung geht weiter, als es ihr Autor selber erkannt hatte. Und das macht (zum Beispiel) gute Literatur aus.


Gelesen in der Ausgabe der Folio Society von 2006, die ein Vorwort von Richard Fortey aufweist, in dem er unter anderem nicht nur auf die Ähnlichkeit der Physik des Dritten Polizisten mit der 1940 aktuellen hinweist, sondern auch Parallelen einerseits zu Lewis Carroll und H. P. Lovecraft zieht, andererseits auch zu Beckett und Joyce. (Vor allem die vermeintliche oder tatsächliche – zumindest auf O’Nolans Seite tatsächliche – Rivalität zwischen den beiden Dublinern wird ja in der Sekundärliteratur immer wieder thematisiert. In solcher Sekundärliteratur findet sich vieles von der absurden Gelehrsamkeit wieder, die O’Brien in seinen Exkursen zu de Selby parodiert hat. Habent sua fata libelli …)

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