Stanisław Lem: Phantastik und Futurologie I

Am 12. oder 13. September 1921 kam Stanisław Lem zur Welt. Das Geburtsdatum variiert je nach Quelle; es geht das Gerücht, Lem hätte seine Geburt vom 13. auf den 12. September vordatiert aus Gründen des Aberglaubens. Sei dem, wie dem sei – nach 100 Jahren spielt das keine große Rolle mehr, und ich bilde mit diesem Aperçu hier sowieso Tage später den Schluss der Gratulanten. Wie immer. Wie immer auch ist es so, dass runde Geburtstage zum Anlass genommen werden, Teile des Werks des Geburtstagskinds neu aufzulegen. Wie immer ist es so, dass man die bekanntesten Teile neu auflegt – in Lems Fall also seine bekanntesten Romane. Wie immer ist es so, dass man also die Chance verpasst, dem Publikum auch weniger bekannte Teile des Werks eines Autors, einer Autorin, in Erinnerung zu rufen. Oder überhaupt darauf aufmerksam zu machen.

In Lems Fall ist es so, dass seine theoretischen Schriften zur Science Fiction jenen Teil darstellen, der bedeutend weniger bekannt ist und der auch in Lems Fall wieder unter den Tisch fällt. Daran ist Lem allerdings teilweise selber schuld. Seine theoretischen Schriften, zum Beispiel das vorliegende Phantastik und Futurologie, sind schwer verständlich. Nicht primär, weil ihr Thema ein schwieriges wäre, sondern weil Lems Behandlung recht kompliziert ist. Im ersten Teil von Phantastik und Futurologie, um den es hier geht, ist es so, dass Lem gegen den Strukturalismus (in der Person von Roland Barthes) wettert, selber aber eine Art strukturalistischer Analyse phantastischen Schreibens versucht. Er sucht über mehrere hundert Seiten nach den Konstruktionsprinzipien eben dieser Phantastik. Wobei, wenn Lem von Phantastik spricht, er nicht das meint, was ich hier normalerweise darunter verstehe. Phantastik ist in seinem Sprachgebrauch in erster Linie identisch mit wissenschaftlicher Phantastik (ein Begriff, den er ebenfalls benutzt), bzw. mit Science Fiction. Auch diesen Begriff benutzt er, recht häufig vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs, wo er dann damit aber meist ausschließlich die US-amerikanische Science Fiction meint.

Ein weiterer wichtiger Begriff in Teil I ist der der Phantomatisierung. Darunter subsummiert er jede Form von virtueller Realität. Während wir heute aber unter diesem Begriff vor allem technologisch generierte Varianten von quasi-realistischen Darstellungen durch Computer verstehen, spielt diese Art virtueller Realität bei Lem eine Nebenrolle. Seine Phantomatisierung wird vor allem durch Drogen, Hypnose und ähnliches hervorgerufen. (Phantastik und Futurologie erschien 1970 – da waren Computer noch Riesendinger mit vergleichsweise schwacher Rechenleistung.) Dennoch ist die Phanomatisierung für Lem eines der wichtigsten Strukturmerkmale der Science Fiction. Oder, einfacher gesagt: fremde Welten mit fremden Wesen und vielleicht sogar einer uns fremden Physik. Die Regeln, nach denen solche Welten konstruiert werden können, sind es, die Lem im ersten Teil von Phantastik und Futurologie zu er- und begründen sucht.

Inklusive der Fehler, die andere Autoren (und auch er selber – er nimmt sich von seiner Kritik nicht aus) in ihren Konstruktionen begangen haben, denn im Allgemeinen hält er wenig von der Science Fiction. Hier ist vor allem die US-amerikanische Variante gemeint. Während zum Beispiel Kafkas Protagonisten (in der Verwandlung oder dem Process) immer ein Schicksal aufweisen, das über sie hinaus deutet, so, wie auch in Thomas Manns Felix Krull der Hochstapler nicht nur ein Hochstapler ist, sondern auf den Künstler im Allgemeinen deutet – während also in der ‘Hochliteratur’ (Lem verwendet den Begriff nicht, meint aber genau das) die Figuren und Ereignisse mehr ‘bedeuten’ als was die reine Handlung impliziert, ist es in der Science Fiction für Lem halt eben so, dass Handlung und Figuren eindimensional sind. Sie bedeuten nichts außerhalb ihrer Geschichte. Auch ist für Lem die Haltung vieler US-amerikanischer Autoren zu den Naturwissenschaften mehr als nur bizarr. Seine Lieblingszielscheibe ist her A. E. van Vogt, dessen Nexialismus bzw. Welt der Null-A für den Polen reiner Humbug sind (er braucht dieses Wort allerdings nicht!), von van Vogts Neigung zum ehemaligen Autoren-Kollegen Hubbard und dessen Dianetik ganz zu schweigen. (Übrigens: Ja, er spricht einmal davon, wie wohl Science Fiction von Frauen aussehen könnte, erwähnt einmal Le Guin – ansonsten ist Science Fiction für ihn männlich. Was allerdings dem Zeitgeist und der Realität der Nachkriegs-SF in den USA entsprach.)

Die ‘neue Welle’ der Science Fiction (New Wave) nimmt er gerade noch zur Kenntnis, hält aber John Brunner (ohne ihn hier zu nennen) vor, dass die neuen Stilmittel, die er verwendet (zum Beispiel in Stand on Zanzibar, auch diesen Roman nennt Lem nicht direkt), dass die neuen Stilmittel also in der ‘richtigen’ Literatur schon lange alte Kamellen sind. Damit hat der Pole natürlich Recht, aber er sieht nicht, dass hier von Brunner & Co. ein wohl nicht auszulassender Schritt getan werden musste, wenn Science Fiction wirklich an die ‘richtige’ Literatur herangeführt werden sollte. Heute sind wohl die Relationen wieder andere, und wenn Lem festhält, dass noch H. G. Wells mit Nicht-Science-Fiction-Autoren auf gleicher Ebene verkehren konnte, sind wir zu seinem 100. Geburtstag langsam wieder dort angekommen. (Abgesehen davon, dass Lem wohl viele seiner Urteile über westliche Autoren revidiert hätte – wie er jenes über Philip K. Dick revidierte – wenn er im kommunistischen Polen die Möglichkeit gehabt hätte, mehr von ihnen zu lesen. Stapledon beurteilt er meiner Meinung nach zu positiv, Asimov oder Vonnegut zu negativ, ebenso Agatha Christie – denn auch den Kriminalroman macht Lem in einer Randbemerkung in Bausch und Bogen herunter.)

Lems strukturelle oder paradigmatische Auslassung zeigen einen Willen zur Form, der sich die Literatur (hier die Science Fiction) leider widersetzt. Dennoch sollte, wer Lem gerecht werden will, auch seine theoretischen Schriften zur Kenntnis nehmen.

Fortsetzung folgt.


Stanisław Lem: Phantastik und Futurologie. 1. Teil. Übersetzt von Beate Sorger und Wiktor Szacki (vom Autor autorisiert). Frankfurt/M: Insel, 1977.

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