Ob und in welchem Ausmaß ich Lukian zur Kenntnis genommen hätte ohne Christoph Martin Wieland, vermag ich nicht zu sagen. Auf jeden Fall hat die Übersetzung Wielands bei Lukian für mich die Wirkung des heimatlichen ’so und nur so muss der Autor klingen‘, die ich bei der Voß’schen Homer-Übertragung verspüre oder der so genannten Schlegel-Tieck’schen von Shakespeare. Das hat nichts mit der Qualität der Übersetzung als solcher zu tun; es gibt sicher in allen drei Fällen unterdessen bessere, genauere oder auch nur schönere. Aber das vertraute Gefühl vermitteln mir in allen drei Fällen halt nur die Übersetzungen, in denen ich diese Autoren kennen gelernt habe.
Während Wielands Shakespeare-Übersetzung die Nachwelt nicht wirklich erreicht hat, gilt das bei der von Lukian nicht. Sie wird bis heute immer wieder aufgelegt, und was Friedrich Schiller 1788 darüber an seinen Freund Körner schrieb, gilt auch heute noch:
Von Wielands Lukian habe ich schon viel gelesen und kann Dir die gerechtesten Erwartungen von diesem Buche geben. Ich habe nicht geglaubt, daß in Lukian so herrliche Wahrheiten stecken.
Sicher: Wieland musste dem Geschmack seiner Zeit entsprechend einige Dinge verhüllt umschreiben, die Lukian gerade heraus angesprochen hatte; und in mindestens einem Fall, nämlich beim 5, Kapitel der Hetärengespräche, liess der Deutsche sogar gleich alles weg. Wo Lukian mit der Direktheit und Derbheit der Antike die lesbische Liebe zwischen zwei Hetären ansprechen konnte, musste der Deutsche mit mehr als anderthalbtausend Jahren christlicher Prüderie hinter sich auf eine Wiedergabe verzichten. Auch eine Szene in der Wahren Geschichte, wo Lukian von einem Volk erzählt, das keine Schiffe baut und trotzdem auf hoher See segelt, weil sie nämlich ihr offenbar beträchtliche Ausmaße besitzendes Zeugungsglied als Mast für die Segel verwenden, ließ Wieland gleich ganz weg. In anderen Fällen formuliert er halt ein wenig zurückhaltender als der antike Autor.
Der vorliegende Band Der Lügenfreund vereinigt einige kürzere oder längere Erzählungen und fingierte Gespräche Lukians. Nicht alle sind da von gleicher Qualität; allen aber ist gemeinsam, dass Lukian entweder die antike Götterwelt verspottet oder menschliche Verhaltensweisen. Denn die Überlieferungen über den übermäßigen sexuellen Appetit der antiken Götter – seien es nun Männlein oder Weiblein –, der macht, dass es in den antiken Göttergeschichten meist nur darum geht, wer jetzt mit wem darf oder möchte, bzw. eben nicht darf und lieber nicht möchte, sind nach Lukian nachgerade verleumderisch. (Er macht für diese Verleumdungen übrigens Homer und Hesiod persönlich verantwortlich.) Dennoch kann ihn das nicht davon abhalten, weitere Verleumdungen und Blicke hinter die Bettvorhänge der Götter hinzu zu fügen.
Solche Geschichten sind zweifellos witzig, aber mehr als ein mildes Lächeln werden sie schon zu Wielands Zeiten dem Publikum kaum mehr entlockt haben. (Nun, immerhin dies!) Ähnliches gilt für die Götter-, Meergötter– oder die schon erwähnten Hetärengespräche, wo im ausgehenden 18. Jahrhundert allenfalls noch die eine oder andere Anzüglichkeit besonders interessieren mochte. Das 21. Jahrhundert ist da ja abgehärteter. Immer noch interessant aber sind auch heute noch die so genannten Totengespräche, wo die Toten untereinander ihr Leben und das anderer verhandeln. Es sind insbesondere die Diskrepanzen zwischen den zu Lebzeiten vorgezeigten Überzeugungen und dem tatsächlichen Verhalten, wenn es dann mit dem Sterben ernst wurde. Hier unterlegt Lukian seiner Satire einen ethischen Diskurs. Der Autor sympathisiert eindeutig mit der kynischen Position der materiellen Bedürfnislosigkeit. In seiner Präsentation dieser Position (nämlich wie wenig dieser Bedürfnislosigkeit nachgestrebt wird und wie verlogen die Menschen meist sind) erblicken wir den Übergang vom antiken Kynismus als philosophischer Position zum modernen Zynismus als psychologischer Disposition des Erzählers. Und das ist faszinierend, wie mein Lieblings-Alien sagen würde.
Daneben haben wir in der Wahren Geschichte bereits den Aufschneider vor uns, der in der Ich-Form davon schwadroniert, zum Mond und zur Sonne gesegelt zu sein, dort einem Krieg zwischen Seleniten und Helioten beigewohnt zu haben und auf dem Heimweg an verschiedenen Orten der antiken Mythologie vorbei gekommen zu sein – an der Unterwelt ebenso wie an der Insel Circes. Und auch sonst findet er ein paar Orte mit Einwohnern, die den klassischen Einfüßern oder den Lotophagen eines Herodot nichts nachgeben. Bürger für seinen Münchhausen ließ sich wohl ebenso von diesen Geschichten inspirieren wie Cyrano de Bergerac für seine Reisen zum Mond und zur Sonne.
Alles in allem intelligente und gut gemachte Satiren, die in den meisten Teilen auch heute noch Gültigkeit haben, denn das menschliche Verhalten hat sich seit der Antike nicht verändert.
Gelesen in folgender Ausgabe:
Lukian: Der Lügenfreund. Satirische Gespräche und Geschichten. Aus dem Griechischen von Christoph Martin Wieland. Auswahl Wolfgang Ritschel. Textrevision Herbert Greiner-Mai. Kommentar Jürgen Werner. Berlin: Aufbau-Verlag, 1998.