Varnhagen hat in jungen Jahren durchaus auch selber geschrieben, sogar zusammen mit Brentano und anderen eine kurzlebige Literaturzeitschrift gefüllt. Bekannt aber wurde er (und ist es bis heute geblieben) als eine Art Drehscheibe der damaligen Intellektuellen Deutschlands. Und als Sammler. Er sammelte Bücher und Autographen. Seine Sammlung kam einige Zeit nach seinem Tod an den preußischen Staat und ist bis heute unter seinem Namen bekannt – auch wenn, wie so oft bei den in Berlin gelagerten Exponaten – im Zweiten Weltkrieg große Teile davon nach Polen ausgelagert wurden, wo sie sich noch heute befinden. Varnhagens Sammlung ist im Moment also eher als eine virtuelle anzusehen.
Varnhagen und Alexander von Humboldt müssen sich schon 1810 kennen gelernt haben. Der vor mir liegende Briefwechsel setzt allerdings erst 17 Jahre später ein, 1827. Der Kontakt wurde dann allerdings rasch enger; man kann aus Humboldts Briefen ersehen, wie da sehr rasch eine Freundschaft heranwuchs. (Eines der Merkmale Varnhagens, nebenbei gesagt: Er verstand es, sehr unterschiedliche Charaktere, wie zum Beispiel den schon oben genannten Brentano oder auch Heine, in Freundschaft an sich zu binden.) Aber erst nach Humboldts Sibirien-Reise von 1829 wurde der Kontakt wirklich eng. Das hat auch traurige persönliche Gründe. Varnhagen verlor 1833 seine Frau Rahel; Alexander von Humboldt musste 1835 seinen Bruder Wilhelm zu Grabe tragen. So sahen sich beide auch vor der Aufgabe, den Nachlass der Verstorbenen zu besorgen – im Falle Wilhelms veranstaltete Alexander eine erste Werkausgabe. Und nachdem Humboldt zunächst noch die vier jährlichen Monate Aufenthalt in Paris ausnützte, verließ er – wohl aus Altersgründen, aber auch, weil er an seinem Lebens- und Altersvermächtnis, dem Buch Kosmos, arbeitete – später Berlin immer weniger. Auch Varnhagen war dort heimisch geworden. Weder aus Paris – und nur selten aus Potsdam, wohin er als Kammerherr des öfteren gerufen wurde und damals bereits mit der Eisenbahn reiste – sind Briefe Humboldts an Varnhagen überliefert.
Was den Briefwechsel der beiden so interessant macht und erklärt, warum binnen eines Jahres gleich sechs Auflagen davon erschienen, sind vor allem die Briefe Humboldts. Auch der über Achtzigjährige war noch als Kammerherr des Königs (Friedrich Wilhelm IV.) in die Politik Preußens involviert – sämtliche unumgängliche Kabalen und Intrigen im Hintergrund inklusive. Humboldt nahm diesbezüglich seinem Freund gegenüber kein Blatt vor den Mund. Oft, so scheint es, kann der alte Mann das Theater nur noch mit finsterstem Zynismus ertragen. Immerhin haben die beiden Briefpartner in der Nach-Goethe-Zeit nicht nur die Restaurationszeit erlebt, sondern auch noch zwei Revolutionen in Frankreich: die Julirevolution von 1830 und die Februarrevolution von 1848. Humboldt, können wir feststellen, steht auf der Seite der Freiheit. Er sympathisiert mit den Göttinger Sieben und auch, dass in den USA ein Freund der Sklavenhalter zum Präsidenten gewählt wurde, erweckte in ihm großes Unbehagen. Er sah den Abolitionismus um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zurückgeworfen. (Andererseits konnte er sich ein paar satirische Bemerkungen nicht verkneifen, als er erfuhr, dass ihm der höchste brasilianische Orden verliehen werden sollte, während er nur ein paar Jahre früher dort noch steckbrieflich gesucht worden war …)
In diesem Buch sind vorwiegend, wie es schon der Titel anzeigt, Humboldts Briefe an Varnhagen enthalten. Es gibt aber auch ein paar Briefe anderer – Briefe, die an Alexander von Humboldt gerichtet waren, die er nach Beantwortung an Varnhagen weiterreichte. Humboldt war auf diese Weise einer, wenn auch wohl nicht der einzige, der zur Vergrößerung der Autographen-Sammlung Varnhagens beitrug. Oft waren die Briefe auch, wie zum Beispiel jene Victor Hugos oder Honoré de Balzacs, eher formell gehalten – Grüße von einem König im Reich des Dichtens und Denkens an einen anderen. (Und ja, auch Friedrich Wilhelm IV. schrieb an Humboldt, und auch diese Briefe erhielt Varnhagen. Die Briefe finden sich ebenfalls in dieser Ausgabe; nicht immer zeichnete sich der König von Preußen durch intelligente Bemerkungen aus.) Es ist verblüffend, wie viel Arbeit (für den König, aber auch für sich selber) der alte Mann noch auf sich nahm. Im Übrigen ist es aber auch so, dass Humboldts Erinnerungen mehr und lieber zur frühen Südamerika-Reise zurück kehrten als zur viel späteren nach Sibirien.
Zum Erfolg des Buchs hat sicher auch dessen Herausgeberin beigetragen: Ludmilla Assing. Sie war die Nichte des kinderlos verstorbenen Karl August Varnhagen von Ense und betreute seinen Nachlass. Sie war es, die gegen den Willen des Verlegers darauf beharrte, dass Humboldts Briefe an ihren Onkel unzensiert der Öffentlichkeit vorgestellt würden, ebenso alle anderen Briefe. Der Skandal war vorprogrammiert und trat dann auch ein. Da dieses Buch nicht die einzige Gelegenheit blieb, bei der sie Preußen provozierte, wurde sie später sogar steckbrieflich verfolgt und lebte in Italien, wo sie sich dem linken Flügel des Risorgimento anschloss. Sie war ganz eindeutig eine interessante Frau und hätte es, nebenbei gesagt und ganz unabhängig von diesem Buch hier, verdient, bekannter zu sein.
Das Buch ist im Übrigen online einsehbar – und zwar genau in der zweiten Auflage, die auch physisch vor mir liegt. Eine durchaus lohnende Lektüre.