Der Buchtitel „Leben mit den Göttern“ ist Programm: Eine Beschreibung von Gesellschaften mit ihren überlieferten Mythen, den dort geschilderten Geistwesen und deren supernaturalistischen Kräften. All diese Erzählungen, die Rituale, der Glaube an eine „andere Welt“ stiften ein Gemeinschaftsgefühl, das der Autor für wertvoll und unerlässlich für den Zusammenhalt einer Gruppe hält. Letzteres mag für die letzte Phase der Altsteinzeit (MacGregors Beschreibung setzt mit dem Fund des „Löwenmenschen“ in der Stadelhöhle ein, der auf etwa 40 000 Jahre datiert wird) bis weit in die historische Zeit für das Überleben eine Gruppe wichtig gewesen sein, hat sich aber spätestens seit der Entstehung von Großreichen als zunehmend problematisch erwiesen. Diese Problematik ist MacGregor durchaus bewusst, aber in einer Art kindischen Verliebtheit zur warmen Geborgenheit (seiner Kindheit?) weigert er sich, das bequeme, religiös-metaphysische Mäntelchen als ein atavistisches und überaus gefährliches Sedativum zu betrachten, das in seiner Irrationalität für ein Gutteil des durch Dummheit verursachten Leidens in dieser Welt verantwortlich zeichnet.
Mythen, Märchen, Sagen sind etwas Wunderbares: Neben all dem Phantasiereichtum sind sie vor allem auch Zeugnis einer geistig-kulturellen Entwicklung, sie sind Resultat einer Auseinandersetzung mit der Umwelt, mit der Natur, sie verweisen auf erste soziale, rechtliche Grundlagen im Zusammenleben, deren Bedeutung und Akzeptanz durch einen übernatürlichen, göttlichen Bezug erleichtert wurde. Aber sie sind und bleiben Erfindung, Spiegel des menschlichen Geistes und zeugen trotz ihrer Funktionalität nicht von irgendeinem „höheren“ Wissen, wie von romantisierenden Metaphysikern oft und gerne unterstellt. Und genau das macht sie in unserer Zeit auch so gefährlich: Kaum ein Krieg, der nicht durch religiöse, nationalistische (häufig geht beides ineinander über, man denke an Israel) Mythen befeuert wird, der durch diesen irrationalen Bezug sich allen Lösungsmöglichkeiten entzieht, weil gegen eine religiöse Motivierung aufgrund der unterstellten Göttlichkeit der Argumente kein Widerspruch möglich, ja ein solcher Gedanke allein schon als Affront betrachtet wird. Rationalität ist nicht zufällig in allen Religionen verpönt, denn intuitiv (oder auch mit klarem Bewusstsein) spürt jeder Religiöse, dass eine solche Analyse – konsequent zu Ende gedacht – das ganze Gebäude unweigerlich zu Fall bringen würde.
Rudolf Bultmann hat etwa einen solchen Versuch gewagt und ist selbstredend kläglich gescheitert: Er versuchte die Bibel zu entmythologisieren, weil ihm – auch – an Wissenschaftlichkeit gelegen war und er die Einfalt vieler Gläubiger als für sich selbst inakzeptabel ansah. Aber dieses Unternehmen kann nur scheitern: Entweder man bricht an manchen Stellen ab und dogmatisiert bestimmte Bereiche oder aber sieht sich zur Aufgabe des gesamten Konstrukts gezwungen. In realiter wird noch häufiger eine dritte Variante eingesetzt: Man umschreibt – in wundersame Wortwolken gehüllt – den in Frage stehenden Sachverhalt und gelangt zu Formulierungen wie „Jesus ist in der Verkündigung auferstanden“, was im übrigen zum Unmut aller führt. Die Orthodoxen fühlen sich mit Recht um ihren entscheidenen Glaubensinhalt betrogen, während Skepsis und Rationalismus derlei nur als lächerlich und feige empfindet. Die dieses Geschwätz produzierenden, sich als aufgeschlossen gerierenden Theologen pflegen dann meist sehr beleidigt zu reagieren – bzw. mit völligem Unverständnis: So hat Hans Küng (Paradebeispiel dieses „modernen, aufgeschlossenen“ Theologen nie begriffen, warum Hans Albert seine Ausführungen einer so harschen und vernichtenden Kritik unterzogen hat und Fundamentalisten weitgehend unbehelligt ließ. Denn mit diesen zu diskutieren ist aufgrund ihrer dogmatischen Grundhaltung per se unmöglich, während hingegen jemand, der sich der Logik und rationalen Argumenten nicht völlig verweigert, zur Einsicht über die Unsinnigkeit seines Vorhabens gebracht werden kann (was aufgrund der oben angeführten Immunisierungsstrategien aber so gut wie nie gelingt).
Und so ist auch all das, was MacGregor in diesem Buch zur Verteidigung von Mythen vorbringt, irgendwo zwischen Einfalt und Lächerlichkeit angesiedelt. Teilweise scheint er das auch immer wieder zu spüren, weshalb er schließlich meint, auf die Gefahren eines atheistischen Weltbildes anhand von zwei Beispielen hinweisen zu müssen: Zum einen auf die Zeit der französischen Revolution, zum anderen auf die areligiöse Seite der Sowjetunion. Allerdings sind beide Beispiele mehr als schlecht gewählt und zeugen vielmehr von der Gefährlichkeit genau jener Systeme, die der Autor damit zu verteidigen gedenkt. Denn weder war die Zeit der französischen Revolution frei von mythologischem Gedankengut – im Gegenteil: Man introduzierte den Kult eines höchsten Wesens, hielt Feiern zu seiner Verehrung ab und tat im Grunde nichts anderes, als einen künstlichen Mythos zu erschaffen und zu versuchen, ihm durch Gewalt im Volk Geltung zu verschaffen. Ganz ähnlich im durch die Sowjet-Union geprägten Kommunismus: Von Wissenschaftlichkeit (deren Voraussetzung immer nur eine liberale Gesellschaft sein kann, weil Wissenschaft aufgrund der immer nur vorläufig gültigen Erkenntnisse krtitikoffen sein muss) konnte nirgendwo die Rede sein (man lese etwa Lems Ausführungen zum lächerlichen Festhalten am Lyssenkoismus im Ostblock), alles, was der herrschenden Doktrin des dialektischen Materialismus auch nur im mindestens zu widersprechen schien, wurde verdammt, man war einem rigiden, quasi-religiösen Dogma unterworfen, das Häresien (siehe Trotzki) auf ebenso grausame Weise unterdrückte wie das Christentum.*
Im übrigen scheint mir auch der Vorwurf, dass man durch Wissenschaftlichkeit und Rationalität die Welt ärmer mache, sie des Wunderbaren entkleide, unsinnig: Bei aller meiner Liebe zu den erwähnten Märchen und Mythen über Weltentstehung, den Tod, die Liebe oder epistemologische Anmaßung des Menschen: Wer je nur ein wenig in Werken über Quantenphysik, Kosmologie oder alten und neuen Philosophen geschmökert hat, wird in der wissenschaftlichen Literatur einen Reichtum entdecken, den die oft einander ähnelnden und in verschiedenen Varianten wiederkehrenden Sujets der Mythen nicht annähernd erreichen. Man „braucht“ keine Mythen: Sie sind in unserer heutigen Welt entbehrlich und meist gefährlich; ihre Verklärung neigt zum Dogmatismus und dieser hinwiederum befördert die unzähligen kriegerischen Auseinandersetzungen. Es ist nicht die Rationalität, die die Welt ärmer macht, sondern deren Verachtung zugunsten vernunftwidriger Narrative, die eine Form elitären Gemeinschaftsgefühls erzeugen und alle anderen ausgrenzen, Narrative, die Gewalt und Unterdrückung legitmieren – auch in der eigenen Gruppe (gegenüber Minderheiten oder als minderwertig angsehen Teilen: Etwa Frauen in so gut wie allen Gesellschaften).
Selbstredend kann man Mythen wissenschaftlich untersuchen – und das sogar mit Gewinn: Aber der Mythos selbst ist im Regelfall ein irreales Konstrukt ohne Anspruch auf Wahrheit oder Objektivität. Wer heute ein solches Denken immer noch hochhält oder ihm eine naiv-einfältige Verehrung entgegenbringt (wie der Autor des Buches) macht sich mitschuldig an zahlreichen Verbrechen, die im Namen dieser unsinnigen Verklärungen begangen werden. Diese mangelnde Konsequenz im Denken sehr vieler Menschen, die die Vernunft bei Bedarf suspendieren und ihr eigenes, meist durch die Kindheit erfahrenes, damals indoktriniertes Geisterreich hochhalten, führt zu einer Welt, in der man sich gegen Viren Pferdeentwurmungsmittel verabreicht, Desinfizierungsmittel spritzt, in der Wahrheit relativiert wird und schlussendlich jedem Blödsinn Platz eingeräumt wird im Sinne einer verqueren Toleranz. Wer an die Wiederaufstehung glaubt, kann Flacherdler und Chemtrail-Verschwörer nicht kritisieren, wer seine subjektiven Ansichten einer wissenschaftlichen Analyse gleichstellt, sollte Donald Trump einen guten Mann sein lassen (und tut es wohl auch häufig). Was selten begriffen wird: Unsinn zu glauben ist keine Kleinigkeit, sich der Logik zu widersetzen keine lässliche Sünde – sondern eine (die) Hauptursache für den Zustand unserer Welt.
*) Luigi der Marchi hat in seinem lesenswerten Buch „Der Urschock“ die Ähnlichkeit christlicher und kommunistischer Endzeitvorstellungen herausgearbeitet.