Ruth Rehmann: Illusionen

Von unten fotografierter Wolkenkratzer mit Glasfassade. Man sieht links einen mit Wolken verhangenen Himmel, in der MItte (schräg durchs Bild) beginnt die Fassade, die den Himmel in etwas dunklerem Blau spiegelt. - Ausschnitt aus dem Buchcover.

1958 las Ruth Rehmann aus einem Kapitel dieses Romans an der Tagung der Gruppe 47. Sie landete damit schließlich auf dem zweiten Platz – der Preis der Gruppe ging an einen jungen Mann, den man bisher eigentlich nur als Lyriker kannte und als Bildhauer: Günter Grass mit seiner Blechtrommel. Als sie im folgenden Jahr den Roman veröffentlichte, war es abermals Grass mit der Blechtrommel, der ihr bei Publikum und Kritik die Show stahl, zusammen mit Heinrich Bölls Billard um halb Zehn und den Mutmaßungen über Jakob von Uwe Johnson.

Nun kann man argumentieren, dass es vor 65 Jahren bei bei einer so selbstverständlich machohaft ausgerichteten Kritik, der ein ebenso ausgerichtetes Publikum folgte, nicht anders zu erwarten war. Heute, würde man sagen, sind wir weiter. Wir sind es nicht. Als der Roman 2021 beim Verlag AvivA in Berlin neu aufgelegt wurde (vor mir liegt die zweite Auflage von 2022), hat ein weiterer Mann, nämlich der Literaturwissenschaftler Hans Werner Jung in seinem Nachwort mehrere Seiten unnütz damit verbraten, über Grass’ Blechtrommel zu referieren und den Anschluss an die moderne Literatur, den Grass damit geschafft haben soll. Und selbst Nicole Seifert, die ansonsten in ihrem Buch über die Gruppe 47 mit deren Männern keineswegs zimperlich umgeht (zu Recht keineswegs zimperlich), spricht in ehrfürchtigem Ton von Grass’ Blechtrommel.

Dabei lohnt es sich aus heutiger Sicht eigentlich gar nicht. Die Blechtrommel und Billard um halb Zehn schlugen damals beim Publikum vor allem ein, weil tatsächlich zum ersten Mal Autoren der Gruppe 47 gegen das von ihnen selbst aufgestellte Verbot verstießen, a) nicht über die Nazizeit und b) nur in sachlichem Stil zu schreiben. Grass’ wie Johnsons Roman hatten dazu den Vorteil des Exotismus in nostalgischer Form, indem sie über Gegenden schrieben, die (aus westlich-‚revisionistischer’ Sicht) ‚verloren‘ waren: Danzig bzw. Mecklenburg. Dazu noch verwendeten beide Romane einen Außenseiter als Protagonisten. Das Interesse des Publikums war wohl eher voyeuristisch motiviert denn literarisch. Denn weder Grass’ Wortgeklingel noch Johnsons einfache Sätze – von der Story als solcher ganz zu schweigen – haben diese außerordentliche Verehrung verdient. Bölls Roman wiederum war der misslungene Versuch, einen Gesellschaftsroman im Stil der Buddenbrooks zu verfassen. Aber während Thomas Mann wusste, worüber er schrieb (nämlich jene Gesellschaftsschicht und Zeit, aus der er selber stammte) und wie er schrieb, fabelte sich Böll eine seltsame Familie zusammen mit Problemen, die man damals als zeitgenössisch verstand, die aber im Grunde genommen hanebüchen waren. Dass Böll nie in der Lage war, korrektes Deutsch zu schreiben, war wohl schon damals ein offenes Geheimnis. Und für diese drei Werke und Autoren habe ich nun rund 3‘000 Zeichen verschwendet …

Während doch mit Illusionen ein wirklich moderner Roman auf uns wartet. Einer, der uns auch heute noch viel zu sagen hätte, denn die Probleme des arbeitenden Mittelstandes, der ‚White-collar-worker’, existieren noch heute. Und noch heute sind Büroromane eine Seltenheit in der deutschen Literatur. Rehmanns Roman erzählt uns leider (leider für seine Verkaufszahlen) nichts Exotisches, im Gegenteil. Wir verbringen auf rund 275 Seiten ein Wochenende mit vier kaufmännischen Angestellten (wie sie hierzulande heißen). Die vier teilen sich in der Firma ein Büro und sind damit sogar privilegiert, weil die meisten ansonsten in Großraumbüros arbeiten – außer dem Direktor natürlich. Da ist die Chefsekretärin Gertrud Schramm, die Dienstälteste. Sie identifiziert sich zu 100 % mit der Firma, bemuttert ein bisschen die anderen drei im Büro – und ihren Chef. Carmen Viol, die designierte Nachfolgerin Schramms, steht Anfang 40, möchte das aber so wenig wahr haben wie Schramm die bevorstehende Pensionierung. Anfang 30 ist der gescheiterte Romanist Paul Westermann, der hier ein Unterkommen als Fremdsprachenkorrespondent gefunden hat, aber an den Anforderungen eines kaufmännischen Französisch wieder und wieder scheitert. Die Jüngste im Raum heißt Therese, ist gerade mal 19, aber bereits verheiratet (so, wie auch Westermann, nebenbei gesagt).

Im Folgenden erzählt uns Rehmann völlig unaufgeregt, in welche Katastrophen alle vier in diesem singulären Wochenende schlittern. In der Tat erzählt es Rehmann derart unaufgeregt, dass es der Kritik, wo ich sie gelesen habe, offenbar völlig entgangen ist. Jede der vier freut sich riesig aufs Wochenende und jede hat große Pläne. Und alle erleiden sie menschlichen Schiffbruch.

Gertrud Schramm ist die erste. Ihr wird noch vor Beginn des eigentlichen Wochenendes, Samstags kurz vor 13 Uhr (damals begann das Wochenende erst am Samstagnachmittag!) vom Direktor mitgeteilt, dass sie den Anforderungen der Firma nicht mehr genüge und man sie frühzeitig in Rente schicke. Schramm, die das mit den Aussagen des Direktors am letzten Firmenjubiläum vergleicht, wo es noch hieß, die langjährigen Mitarbeiter (damals galt noch das generische Maskulinum) seien die Stützpfeiler der Firma, kann es nicht glauben. Sie denkt, sie wurde verleumdet und verraten, tippt aber auf die falsche Person. So verbringt sie das ganze Wochenende, immer am Rande eines physischen wie psychischen Zusammenbruchs auf der Suche nach der Verräterin und mit Plänen, wie sie sich wieder in die Gunst des Direktors setzen könnte. Denn ein Leben ohne Firma kann sich Frau Schramm eigentlich gar nicht vorstellen. Sie wird die Person, die sie für die Verräterin hält, in einer psychiatrischen Klinik wiederfinden und den Direktor sogar am Sonntag zu Hause aufsuchen, wo sie ihn beim Packen antrifft für den nächsten Geschäftsflug – von dem sie nichts wusste. Ändern wird sie ihr Schicksal nicht.

Carmen wird das ganze Wochenende damit verbringen, auf einen Mann zu warten, der sie angerufen hatte, um ihr sein Kommen anzukündigen. Sie weiß nicht, wer es sein könnte. Aber eigentlich hat sie ihr ganzes Leben damit verbracht, auf ihren Traummann zu warten. So erleben wir sie, wie sie den größten Teil des Wochenendes in Erinnerungen an jene Traummänner verbringt, die sie auf ihren Urlaubsreisen angetroffen hat. Ist es ihr klar, dass dies alle professionelle Gigolos waren? Rehmann lässt uns Lesende im Dunkeln. Der Anruf kam von einer merkwürdigen Figur – nämlich einem der Fensterputzer der Firma. Der Firmensitz ist in modernster Glasfenster-Architektur gehalten und braucht ständige Pflege. Der Fensterputzer ist eigentlich ein Zirkusartist und wird am Schluss auch wieder in die Manege zurückkehren. (Ja, auch Rehmann konnte ‚Künstler als Außenseiter‘.) Er wird Carmen im letzten Moment anrufen, sich als sein eigener Freund ausgeben und ihr mitteilen, ihr Geliebter sei bei einem Unfall gestorben. Carmen, die den ganzen Abend zwischen vier Kleidern geschwankt hat, die sie für den Geliebten anziehen würde, zieht nun das schwarze an und geht am Montag auch damit zur Arbeit.

Der einzige Mann im Büro, Westermann, ist ein Träumer. Zwar ist er verheiratet, aber er empfindet für seine Frau vor allem noch – Ekel. Schon als Pubertierender träumte er davon, mit seinem Freund Mark in die Fremdenlegion zu gehen. Wie groß war seine Enttäuschung schon damals, als er merkte, dass sein Freund nie ernsthaft in Betracht gezogen hatte, ihn mitzunehmen. Dennoch: Als der Freund zurückkommt und man sich an diesem Wochenende trifft, dauert es lange und es braucht das Eingreifen einer Frau, mit der Mark unterdessen verheiratet ist, bis er wirklich akzeptiert, dass er seine Freundschaft und seine Träume an einen Hochstapler vergeudet hat. In gewissem Sinn ist er nach diesem Wochenende immer noch der glücklichste der vier Angestellten. Er schreibt zu Hause eine Übersetzung fertig, die er am Montag abliefern muss; von seiner Frau zwar wendet er sich ab, aber als er in seinem Bett den Säugling findet, empfindet er so etwas wie Glück in der Anwesenheit des Kleinen, auch wenn der nass ist und stinkt, weil seine Windel undicht geworden ist. Wir werden im Übrigen nie erfahren, ob Westermanns neueste Übersetzung endlich gelungen ist – aber für ihn besteht am meisten Hoffnung in diesem Quartett.

Die jüngste schließlich muss am Wochenende erfahren, dass sie – die früher stolz darauf war, zu einer Clique zu gehören und doch nicht ganz dazu zu gehören, sich also etwas Freiheit bewahrt zu haben – dass sie nun wirklich nirgends mehr dazu gehört. Weder zu ihrem Ehemann, den sie früh geheiratet und ebenso früh wieder verlassen hat, noch zur Clique (deren Anführerin Therese ebenso anbetet wie Westermann seinen Jugendfreund Mark), noch zu irgendeinem anderen Mann. Sie ist die eigentliche ‚Lost Generation‘ des Romans, die große Einsame.

Am Montag kommen alle vier wieder ins Büro …

Rehmanns Sprache ist sehr melodiös, wenn auch nicht ganz unprätentiös. Hier stehen wir zum Beispiel plötzlich vor der Situation, dass ein ungefähr dreißig Jahre alter Ex-Fremdenlegionär, Hochstapler und Ex-Knasti in ziemlich elegischem Ton die Landschaft Nordafrikas besingt. Rund ein Vierteljahrundert später, im Roman Abschied von der Meisterklasse, würde Rehmann es besser können, weil sie gemerkt hatte, dass ihre Sprache besser zu einer Ich-Erzählerin passte als zu einem auktorialen Erzähler.

Dennoch (oder vielleicht gerade deswegen) bringt die Autorin eine ganz eigene Stimmung in den Roman. Es ist eine durchaus moderne Stimmung, auch wenn sie weder an der Kahlschlag-Literatur der Gruppe 47 orientiert war noch am plötzlich in der deutschen Literatur wieder aufscheinenden Wortgeklingel à la Günter Grass. Es ist vielmehr dieselbe Stimmung nüchtern und leidenschaftslos erzählter und erlittener Katastrophen, die wir in der gleichzeitigen französischen Literatur finden, z.B. bei Albert Camus, in Der Fremde. Mit diesem Roman Rehmanns hat ganz unauffällig der Existenzialismus in die deutsche Literatur Einzug gehalten.

Nicht nur deswegen, sondern überhaupt, gehört die Literaturgeschichte der Adenauer-Zeit revidiert. Die Kritik 1950er können wir nicht mehr korrigieren. Aber wir können und müssen Rehmann in den 2020ern jene Stelle zuteilen, die sie verdient hat. Und wenn wir dafür ein paar alte Kling-Klang-Romane vom Podest stoßen müssen – um so besser.

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