Sahlins ist – wie man schon vermuten wird – jemand, der fremde Kulturen stets mit den Augen der Betreffenden zu betrachten versucht (ob das überhaupt möglich oder wünschenswert ist sei dahingestellt). Man mag das für redlich und anerkennenswert halten, weil dadurch die oft in Beschreibungen durchklingende Überlegenheitsattitüde nach Möglichkeit hintan gehalten wird – Sahlins allerdings scheitert mit diesem Vorhaben ziemlich kläglich.
Er beginnt das Buch mit einer (schon fragwürdigen) Unterscheidung zwischen immanentistischen und transzendenten kulturellen Ordnungen, wobei diese als westlich (mit einer transzendentalen Gottesvorstellung), jene als eine Art Magie mit den der gesamten Umwelt innewohnenden Geistern gedacht ist. Diese Trennung aber ist keineswegs so scharf durchzuhalten, wie Sahlins anzunehmen scheint: In typisch transzendentalen Religionen (wie dem Christentum) finden sich zahllose Hinweise auf Immanenz: Ob dies nun der Heilige Geist ist (der stets im und am Menschen wirkt), ob es die Heiligen sind, denen eine Vermittlertätigkeit zwischen dieser und jener Welt zukommt oder sakrale Dinge (Reliquien, Gerätschaften etc.) – immer ist die Welt von übernatürlichen Wesenheiten bevölkert gedacht, von den den Dingen innewohnenden Kräften, immer auch gibt es Beschwörungsformeln, an Zauberei grenzende Rituale (in der katholischen Messe etwa bei der Wandlung), die die transzendentale Gottheit fast völlig in den Hintergrund treten lassen. Ebensowenig gibt es rein magische, animistische Kulte: Zwischen schlechtem Karma, rächenden Toten oder vernachlässigten Göttern (oder dem einen Gott) sind die Unterschiede oft kaum auszumachen.
Mutet schon diese Trennung in immanentistische und transzendentale Vorstellungen einigermaßen konstruiert an, so wird es bei dem Versuch, den immanentistischen Kulturen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, einigermaßen abstrus bzw. schlicht dümmlich. Sahlins stößt sich an der Ausdrucksweise anderer Anthropologen, die bezüglich des Vorhandenseins der zahlreichen Metawesen, die den Kosmos dieser Stämme bevölkern, zumeist von „glauben“ sprechen. Dabei wird noch nicht einmal klar, wie dieser Glaube aufzufassen ist: Als ein „Für-wahr-Nehmen“ supernaturalistischer Entitäten oder eines mit Zweifel behafteten „Für-wahrscheinlich-Halten“. Sahlins jedoch besteht darauf, nicht von „glauben“, sondern von einem „wissen“ der Betreffenden zu sprechen. Selbst das kann man zugestehen, obschon man keineswegs mit Sicherheit feststellen kann, wovon die Betreffenden wirklich überzeugt sind bzw. ob manche diese Überzeugungen (vielleicht auch unausgesprochen, weil so etwas tabuisiert wird) nicht auch sehr kritisch betrachtet werden. Wenn man aber suggeriert, dass diese Metawesen einen objektiven Anspruch auf Existenz und Wahrheit erheben können, will und kann ich nicht mehr folgen: Ob ein Stamm in Papua-Neuguinea nun an seine Geister nur glaubt oder aber sicher zu wissen vermeint, dass es sie gibt: Meine Bereitschaft an Geistwesen zu glauben ist gleich Null – und ich halte das für keine anmaßende, westliche Sichtweise. Meine Toleranz gegenüber solchen Glaubensvorstellungen hört genau zu dem Zeitpunkt auf, zu dem diese Metawesen als ebenso wirklich gedacht werden wie der Tisch, an dem ich sitze oder die Tastatur, auf der ich schreibe.
Das hat nichts mit arrogantem Überlegenheitsdünkel zu tun, sondern schlicht mit der Beschaffenheit unserer Welt. Selbst wenn jemand zu wissen glaubt, dass es derartige Metawesen gibt und seine Handlungen danach ausrichtet (was selbstredend in eine Beschreibung Eingang finden sollte), so ist die Anerkennung irgendwelcher supernaturalistischer Wesen, Ereignisse – was auch immer – so unsinnig wie wissenschaftlich unredlich. Ich kann und werde als Anthropologe Feldforschung selbstredend nicht in einer Form betreiben, indem ich die Mitglieder dieser Kulturen mit einem Realismus konfrontiere (oder sie gar zu dieser Haltung zu überreden suche), der diese Auffassung überall immanent wirkender Geister als falsch oder einfältig bezeichnet: Das ändert aber nichts an den Tatsachen. Im übrigen hatte ich bislang (und ich habe wirklich zahlreiche Bücher ethnologischen Inhalts gelesen) keineswegs immer (oder auch nur selten) den Eindruck, dass sich die Wirklichkeitsauffassungen bei den Stämmen im Amazonasurwald oder auf Neuguinea auf so fundamentale Weise von der unsrigen unterscheidet, sondern vielmehr das Gefühl, dass es diesen Feldforschern um eine solch divergierende Sichtweise zu tun ist. Denn die physische Umwelt einer Großstadt oder einer unberührten Naturlandschaft unterscheidet sich nicht so sehr, wie diese Forscher häufig suggerieren: Ein Yanomami wird einem stabilen Hindernis ebenso ausweichen wie ein Wiener (so nicht schwer illuminiert) – und würde der Wunderglaube (wie bei Sahlins behauptet) ein unser Vorstellungsvermögen unendlich überschreitendes Ausmaß annehmen, hätten sie in ihrer Umwelt (deren Physik und Chemie dieselbe ist) niemals überleben können. Derlei ist im übrigen auch bei den meisten westlichen Esoterikern und Gottesgläubigen zu beobachten: Im Krankheitsfall begnügt man sich keineswegs mit Gesundbeten oder obskuren homöopathischen Verdünnungstränken, sondern vertraut dann doch den vielgeschmähten, wissenschaftlichen Standardverfahren (und schluckt bestenfalls während der Chemotherapie ein Bachblütenextrakt, um nach der Genesung diese auf obskure Mittelchen zurückführen zu können*).
Das Buch bleibt im übrigen (was die Haltung seines Autors gegenüber diesen Metawesen betrifft) weitgehend unbestimmt: Er kann sich nicht zu einer expliziten Anerkennung von supernaturalistischen Kräften durchringen und nimmt nicht wirklich Stellung zu dieser Problematik. Das klingt dann etwa so: „Ich versuche also, die kulturellen Praktiken der Völker mittels ihrer eigenen Onto-Logik zu entfalten.“ Darin enthalten sei eine Kritik „transzendentalistischer Doppeldeutigkeit und kolonialer Herablassung“. Ich glaube allerdings nicht, dass die Gesetze der Physik irgendwas mit „kolonialer Herablassung“ zu tun haben (wie hier unterstellt wird): Diese sind wertfrei und unabhängig – nicht nur von den Kulturen unseres Planeten, sondern offenbar auch von Sonnensystemen oder Galaxien (jedenfalls gibt es bislang keine Anhaltspunkte für eine solche Annahme). – Was der Autor im übrigen mit „transzendentalistischer Doppeldeutigkeit“ meint lässt sich schon aufgrund der erwähnten völlig ungenügenden Versuche zwischen immanentistischen und transzenentalen Kulturen zu unterscheiden nicht erschließen.
Ausschlaggebend für das Weglegen des Buches war aber – neben all diesen dubios anmutenden Kontrukten – schließlich eine ermüdend sinnentleerte Aufzählung von Riten, Gott-, Götter- und Geistesvorstellungen von Sibirien bis Feuerland, von Neuguinea über Zentralafrika bis in das Amazonasgebiet. Nicht falsch verstehen: Eigentlich finde ich derlei überaus interssant und spannend, aber in diesem Buch fühlte ich mich in veraltete Konzeptionen von Museen versetzt: Eine Unzahl von Objekten, Kunstwerken und Artefakten weitgehend zusammenhanglos dargeboten, eine Vitrine nach der anderen und nachdem man die Betrachtung bis zur Dreistelligkeit fortgesetzt hat, kann man sich an rein gar nichts mehr erinnern.
*) Erfahrungswert des Schreibers dieser Zeilen, der genau diese Erzählung mit Augenverdrehen und Stirnrunzeln zur Kenntnis zu nehmen gezwungen war.
Marshall Sahlins: Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit. Berlin: Mathes & Seitz 2023.