Seishi Yokomizo: Die rätselhaften Honjin-Morde [本陣殺人事件]

Schwarz-weißer Holzschnitt. In der Mitte ein japanisches Liebespaar auf einer Schlafmatte. Links, schwarze Zeichen auf einem roten Hintergrund: 本陣殺. Das sind die ersten drei Zeichen des japanischen Buchtitels: 本陣殺人事件 (Honjin satsujin jiken). – Ausschnitt aus dem Buchcover-Holzschnitt von Ann-Kathrin Peuthen.

‚Historischer Roman‘ ist meiner Meinung nach eher ein Begriff für und von Buchhandel und Verlagswesen als ein literaturwissenschaftlicher. Ich für mich betrachte als ‚historischen Roman‘ Werke, die nach mehr oder weniger Recherche ganz oder in Teilen a) in einer Epoche handeln, die zwei oder mehr Generationen vor den Schreibenden liegt (also mindestens 60 bis 75 Jahre in der Vergangenheit), und die b) historisch gesicherte Persönlichkeiten in Haupt- oder Nebenrollen kennen. Nichts desto trotz sind für mich die Grenzen fließend. So betrachte ich auch den vorliegenden Roman als einen zumindest ebenfalls historischen.

Zwar spielt die Handlung nur wenige Jahre vor der Entstehungszeit und historische Persönlichkeiten fehlen ebenfalls. Aber die (japanische) Geschichte spielt eine nicht unwichtige Rolle in den Rätselhaften Honjin-Morden.

Zur Erklärung müssen wir uns zunächst die Erzählstruktur des Romans betrachten. Er fängt an, wie ein Ich-Erzähler davon berichtet, dass er im Mai des vergangenen Jahres, als die Bombenangriffe ihren Höhepunkt erreichten, in dieses Dorf in der Präfektur Okayama evakuiert worden sei. Das Buch ist 1946 erschienen, wir stehen also wohl mit der Rahmenerzählung kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Dieser Ich-Erzähler erfährt nun von kürzlich stattgefundenen Morden in dieser Präfektur, denn [o]ffenkundig war den Dorfbewohnern meine berufliche Tätigkeit zu Ohren gekommen. Er ist nämlich von Beruf Autor von Kriminalromanen, aber darauf komme ich später. Wichtig für meine persönliche Definition des Romans als eines ‚historischen‘ ist die Tatsache, dass a) die Morde noch vor dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben und b) ihren Wurzeln sogar noch weiter in der Vergangenheit zu finden sind. Bei der von den Morden betroffene Familie nämlich handelt es sich um so genannte Honjin-Leute. In der späten Epoche der Edo-Zeit der japanischen Geschichte nämlich (die gesamte Edo-Zeit dauerte 1603 bis 1868 unserer Zeitrechnung) war ein Honjin eine gehobene Gaststätte (inkl. Übernachtungsmöglichkeit) für höchste Vertreter des Shogunats. Die Gastwirtsfamilie bezog daraus einen ebenfalls gehobenen Status. Weder konnten ‚normale Leute‘ in einem Honjin essen und übernachten noch stellte sich dessen Gastwirtsfamilie auf die gleiche Stufe mit anderen Wirtsleuten. Nach 1868 gab es zwar die eigentlichen Honjin nicht mehr, aber die Mitglieder der Familie blieben meist in der Gegend; sie waren unterdessen zu Großgrundbesitzern geworden mit beträchtlichem lokalen Einfluss. Und ja: Sie fühlten sich immer noch besser als der Rest der umliegenden Bevölkerung. Dieser spezielle Status der Honjin-Familien sollte erst mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg wirklich ein Ende finden. Der Umbruch, der nach 1945 in Japan stattfand, und dessen frühen Nachbeben der vorliegende Roman aufzeichnet, war groß – so groß, wie die Differenzen zwischen der Kultur des Japan in der Edo-Zeit zu dem des im 20 .Jahrhundert langsam in die Moderne eintretenden. Und das rechtfertigt es für mich, bei diesem Krimi auch von einem ‚historischen Roman‘ zu sprechen.

Nicht nur die historische Situation ist aber speziell, der kriminal- und der romantechnische Teil sind es ebenfalls. Da sind zunächst einmal die Erzähler. Wir haben den Ich-Erzähler des Anfangs schon erwähnt. Er tritt immer wieder auf als erklärende Stimme, als Erzähler eines Rahmens, der allerdings keine eigene Handlung kennt – außer, dass er in diesem Rahmen einen gewissen Doktor F. kennen lernt, der damals bei den Morden als Arzt mit an der Untersuchung beteiligt war. Dieser Doktor F. ist zwar in der Zwischenzeit verstorben, aber er hat dem Ich-Erzähler des Rahmens seine Aufzeichnungen zu dem Fall gegeben. Der Rahmen-Erzähler zitiert auch schon einmal in extenso daraus. Wir haben also zwei Ich-Erzähler. Oder sogar drei, wenn wir den vom Rahmenerzähler ebenfalls zitierten Privatdetektiv Kosuke Kindaichi hinzurechnen, der – wie im klassischen Krimi üblich – ebenfalls in der Ich-Form, zum Schluss ausführlichst schildert, wie er den Mördern auf die Spur gekommen ist. Große Teile der Geschichte allerdings werden auktorial berichtet.

Der kriminaltechnische Teil ist ebenfalls speziell. Wir haben hier einen Kriminalroman vor uns, der immer wieder von – Kriminalromanen handelt. Schon das Rahmen-Ich glänzt mit Wissen um die Kriminalliteratur, und von Anfang an lässt der Autor bzw. Ich-Erzähler ganz klar durchblicken, dass wir hier ein klassisches locked room mystery vor uns haben – den Mord in einem Raum, der von innen verschlossen war, in den hinein und aus dem heraus eigentlich niemand kommen konnte. Ja, der Ich-Erzähler des Rahmens macht sich sogar weidlich lustig über die mehr oder weniger intelligenten und komplizierten Lösungen, die von seinen Vorgängern dafür gefunden wurden (nur um seinerseits dann eine extrem komplizierte zu präsentieren). Er bewundert vor allem John Dickson Carr für dessen locked room mysteries, legt aber auch großen Wert auf die Verwandtschaft seiner Geschichte mit der des Geheimnisses des gelben Zimmers von Gaston Leroux, wohl auch weil sein Mord in einem purpur gestrichenen Zimmer stattfindet (welche Farbe ihn offenbar wiederum zwanglos zum Geheimnis des roten Hauses von A. A. Milne führt …) Mehr noch: Nicht nur der Ich-Erzähler des Rahmens ist Kenner sämtlicher locked room mysteries seiner Vorgänger (einzig, seltsamerweise, E. A. Poe wird nicht erwähnt). Der jüngere Bruder des Ermordeten hat in seinem Zimmer eine große Bibliothek, die aus lauter Kriminalromanen besteht. Diese Bibliothek wird für die Aufklärung des Falles wichtig werden.

Bleibt der Ermittelnde, Privatdetektiv Kosuke Kindaichi. Seishi Yokomizo hat ihn hier, 1946, zum ersten Mal verwendet, aber er sollte noch in weiteren 76 Büchern ermitteln. Der Privatdetektiv ist 1946 noch ein junger Mann, der sich wer weiß was auf seine Art zu ermitteln einbildet. Nur Logik nämlich will er angewendet haben. Spurensuche wie bei Arthur Conan Doyle ist nichts für ihn. (Wer den Roman noch nicht kennt und nichts vom Ende kennen will, sollte nun den Rest dieses Abschnitts überspringen!) Dennoch – oder vielleicht gerade deswegen – scheint mir die Lösung des Falls recht wirr zu sein. Seishi Yokomizo greift zurück auf eine ungeheuer komplizierte Apparatur, wobei er sich auch immer auf eine speziell fürs Buch gezeichnete Karte des Schauplatzes bezieht. Ich bin mir, offen gestanden, nicht sicher, ob wir hier nicht sogar eine Parodie auf den Kriminalroman des Typus ‚locked room mystery‘ vor uns haben …

Dem sei wie dem ist: Ich habe mich amüsiert. Ich mag solche Spiele eines Genres mit sich selber. Dass John Dickson Carr ganz eindeutig das große Vorbild Seishi Yokomizos war, schadet zumindest in diesem Roman nicht.


Gelesen in der Übersetzung von Ursula Gräfe, mit Illustrationen versehen von Ann-Kathrin Peuthen, wie erschienen 2023 bei der Büchergilde (eine Lizenz des ein Jahr zuvor erschienen Buchs bei den Aufbau Verlagen).

PS. Die hier erwähnten Autoren und Bücher wurden allesamt im Blog schon vorgestellt. Sie sind zu finden mit den unten angefügten Schlagwörtern, im Inhaltsverzeichnis oder mit der Blog-Suche.

Ansichten seit Veröffentlichung bzw. 17.03.2025: 13

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