Hesperus oder 45 Hundposttage war Jean Pauls zweiter grosser Roman und gleichzeitig der Roman, mit dem er 1795 den literarischen Durchbruch schaffte. Vor allem das weibliche Publikum war entzückt – Goethe und Schiller allerdings weniger. Kein Wunder: Auch dieser Roman ist ein bunter Fruchtsalat. Bedeutend straffer und rigoroser erzählt zwar als noch Die unsichtbare Loge, mäandriert Jean Paul dennoch recht heftig. Das beginnt schon beim Titel: Den Haupttitel „Hesperus“ hat Jean Paul erst sehr, sehr spät hinzugefügt, und es ist einmal mehr ein Titel, der mit dem Inhalt der Geschichte gar nichts zu tun hat – einen Morgen- oder Abendstern suchen wir in der Geschichte vergebens. (Kein Wunder, hat sich auch Jean Paul selber seiner Lebtage auf dieses Buch immer als auf die „Hundposttage“ bezogen – der Untertitel bestand nämlich schon lange; und er hat auch eine inhaltliche Beziehung.)
Man merkt es der Geschichte wohl an, dass Jean Paul im Laufe des Schreibens seine Absichten geändert hat. Ursprünglich war wohl ein Staatsroman beabsichtigt bzw. ein Bildungsroman im Stile von Wielands Geschichte des Agathon. Vieles, v.a. die Reden und Taten der englischen Drillinge, deuten darauf hin, ebenso die Zeit der Handlung: 1792/93, als die Französische Revolution in vollem Gange war. Doch dieses staatsromantische Grundgerüst wird überwuchert von der Liebesgeschichte zwischen Klotilde und Viktor. Daran nicht genug: Auch diese Geschichte ertrinkt nachgerade in den Elementen des Schauerromans, die Jean Paul untermischt, in Verdoppelungen der Figuren, Vertauschungen von Säuglingen, verschwundenen Kindern – kurz, allem, was so die Triviallitarur kennzeichnet.
Viktor ist so etwas wie die Hauptperson der Geschichte, der „Held“, wie ihn auch der Autor oft apostrophiert. Er tut nun zwar überhaupt nichts Heldenhaftes, ausser, dass er über ein Jahr lang seinem Lehrer Emanuel beim Sterben zusieht, ihm auch am letzten Tag beisteht. Denn in gewissem Sinne ist dieser Sterbende die eigentliche Hauptperson, ein weiser Inder. Dennoch – sowohl in staatsromantischer Hinsicht (Viktor reist in Hauptstadt eines Duodezfürstentums, um dort als Sohn eines englischen Lords die Stelle des fürstlichen Vertrauten einzunehmen; so will er so vieles ändern und bessern in diesem Staate) muss man Viktors Mission als misslungen hinstellen (er kann gar nichts ändern, wird im Gegenteil von den höfischen Intrigen völlig überfahren und kalt gestellt), wie auch als Bildungsroman (Viktor ist zum Schluss kein anderer, als er schon beim ersten Treffen mit dem Leser war; alle positiven wie negativen Erfahrungen scheinen an ihm abzuperlen; Emanuel hat den guten Viktor offenbar für den Rest seines Lebens imprägniert).
Alles in allem also kein Buch, dem man einen Bestseller-Erfolg zutrauen würde. Den hat Hesperus wohl dem Überschwang der Gefühle zu verdanken, der diesen Text auszeichnet. Vor allem Viktor wandert stundenlang händchenhaltend durch die Gegend – mit seinem Lehrer wohlgemerkt oder dessen andern Schüler und „Sohn“, dem blinden Julius. Mit Damen durfte man das ja zu jener Zeit nicht. Vor den satirischen Exkursen, den pessimistischen Untertönen wird das Publikum wohl die Augen verschlossen haben.
Was macht das Buch noch heute lesenswert? Da sind zum einen die satirischen Exkurse, sicher. Da ist aber auch Jean Pauls Technik als solche. Exkurse und gelehrte Anspielungen füllen die logisch-inhaltlichen Löcher. Jean Paul kennt und zitiert Fachbegriffe aus den entlegensten Werken und Wissenschaften. Ein wahres Vexierspiel, das er da mit dem Leser aufführt. Letzten Endes hat der Leser keine Chance, Jean Paul ins hinterste und letzte Detail zu folgen; wer’s versucht, wird von Text abgewiesen, wie von einem Lianengestrüpp. Last but not least aber ist es gerade der Gefühlsüberschwang, der das Buch nach wie vor lesenswert macht. Denn die Gefühle drücken sich bei Jean Paul nicht einfach nur in Händchenhalten, Umarmungen oder Küssen aus: Die Landschaft folgt den Gefühlen unseres Helden, und so bewirken grosse Gefühle auch grosse Landschaftsbeschreibungen. Es sind fiktive Landschaften, mythische gar – wie überhaupt die Trennung zwischen Landschaftserfahrung und Traum bei Jean Paul verschwimmt. Womit wir beim letzten beeindruckenden „Feature“ von Jean Pauls Schreibe wären: den Träumen. Alpträume oder Wunschträume – sie haben oft die Ausdruckskraft mystischer Erfahrungen an sich. So was mag ich.
Fazit: Wenn, wie, ich glaube es war Reich-Ranicki, mal jemand gesagt hat, grosse Literatur die Schilderung grosser Gefühle ist, die Schilderung von Liebe und Tod – dann ist Jean Pauls Hesperus ganz grosse Literatur. Denn um etwas anderes geht es hier im Grunde genommen nicht. Jean Paul wird später den „Streckvers“ erfinden – bzw. von einer seiner Figuren erfinden lassen. Genau betrachtet, ist aber schon der Hesperus ein riesiger Streckvers.
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