Gestern verstarb mit Marcel Reich-Ranicki der Mann, der das Bild der Literaturkritik – zumindest im deutschen Sprachraum – geprägt hat wie kein anderer in den letzten rund 50 Jahren. (Es gab vor ihm andere, mit ähnlicher Wirkungsmacht. Das wird gern vergessen, weil Literaturkritik so tagesbezogen ist, dass wir den Kritiker von gestern vergessen ob des Kritikers von heute – ja die Kritik von heute früh ob der Kritik von heute Mittag. Wer weiss heute noch von Alfred Kerr, dem Kriti-Kerr, der zu seiner Zeit eine ähnliche Stellung inne hatte, wie danach MRR?)
Der Literaturkritiker à la Reich-Ranicki ist ein eloquenter Streithammel mit der Gabe der zugespitzten Pointe und dem Fluch apodiktischer Aussagen. Für Reich-Ranicki gab es kaum differenzierte Einstufungen eines Textes. Er lobte oder er verriss. Damit kam er beim Publikum an, wie auch jetzt die „Nachrufe“ lesender Laien in Foren und Blogs zeigen. Wie substantiell seine Kritik war, bleibe dahin gestellt. Mir gefielen sie meistens nicht, zu holzhammermässig schlug er zu.
Überhaupt erinnert mich Reich-Ranicki ein bisschen an – Arnold Schwarzenegger. Weil MRR in vielem das pure Negativ des Steirers darstellt. Schwarzenegger, von beeindruckender Physis und (zumindest in seinen Filmrollen) an Null grenzender Eloquenz – Reich-Ranicki, ein kleines Männchen, aber mit grosser Stimme und beeindruckender Eloquenz. Schwarzenegger, der schon fast debil wirkt, aber einen Universitätsabschluss hat – Reich-Ranicki, omnipräsent und über alles Bescheid wissend, dem aber als Jude ein Studium verwehrt blieb. Schwarzenegger, der Conan den Barbaren mimt; Reich-Ranicki, ein Conan der Literatur, der Autoren mit seiner verbalen Keule zusammenhaute.
Jetzt ist er tot. So weit ich sehen kann, stehen keine Prätendenten auf seinen Titel eines Literaturpapstes in den Startlöchern. Das ist auch gut so. Zu viele Literaturkritiker und solche, die es gerne wären, haben von ihm zwar die Emphase übernommen, aber seine, bei aller Einseitigkeit doch intelligente und (wenigstens manchmal) scharfsinnig analysierende Art beiseite gelassen. Literaturkritik benötigt einen gewissen Furor, aber nur Bücher in die Kamera zu strecken und zu rufen: „Lesen!“, genügt nicht. Wenn ich vom Feuilleton abgekommen bin, dann wohl nicht zuletzt auch wegen MRR. Zu viele glaubten, ihn imitieren zu müssen, keiner kam an ihn heran.
Was ich übrigens schon immer festgehalten wissen wollte: Für eines schätzte ich Reich-Ranicki sehr. In allen Sendungen des „Literarischen Quartetts“, die ich gesehen habe – wann immer der alte Mann die Beine übereinander schlug, nie zeigte er Bein. Seine Socken gingen immer bis zum Knie. Er hatte Stil. Trotz allem.
Lesenswert: Volker Michels über MRRs Umgang mit Hermann Hesse
http://faustkultur.de/675-0-Volker-Michels-zur-Rezeption-Hermann-Hesses.html#.WDGhmrLhCUk
Ich fühle mich als Verteidiger Reich-Ranitzkys nicht wirklich wohl, aber in zwei in diesem Beitrag angesprochenen Punkten hatte er Recht: Hesse ist im Vergleich zu Thomas Mann Kreisliga (dass dessen Verkaufszahlen weltweit die von Mann überschritten ist ein eher kurioses Argument: Dann wäre auch Coelho ein großer Literat). Hesse hatte in einer Zeit Erfolg, die dem Aussteigertum huldigte, dieses mit Esoterischem und Anarchistischem verbrämte und damit jenen Jugendlichen, die sich gegen die alten Autoritäten wehrten, ein Forum bot. Dessen ungeachtet sind seine Bücher platt, sein einsam-unverstandenes Steppenwolfgetue steht einem rebellierenden 16jährigen an, hat aber nichts mit guter Literatur zu tun. Dito die Sache mit Joseph Roth und Stefan Zweig: Da liegen schlicht und einfach qualitative Welten dazwischen, ob’s denn einem gefällt oder nicht. Dass MRR in seinen Kritiken häufig ungerecht und selbstgefällig war steht außer Zweifel (und dass er auch mit so manchem Urteil – etwa über Musil – vollkommen daneben lag): Die Hingabe, mit der der Artikelschreiber für Hesse eintritt, ist in keiner Weise (und schon gar nicht in literarischer) berechtigt, vielleicht wünscht er sein Jugendidol zu verteidigen.