Philosophische Zeiten

Es war einmal – die gute alte Zeit. Eine Zeit, die nicht immer gut war, die sich aber im Regelfall von der rezenten philosophischen Situation unterschied: Darin, dass es – grosso modo – bis vor etwa 100 Jahren möglich war, als gebildeter Laie auf dem neuesten philosophischen Stand zu bleiben. Das war nicht immer leicht: Aristoteles‘ Vorlesungsnotizen sind kein Ausbund an Lesbarkeit, die Ausführungen der Neuplatoniker ebensowenig wie das more geometrico entworfene System eines Spinoza. Und noch viel weniger war es ein leichtes beim ersten großen Sündenfall der Philosophiegeschichte, dem deutschen Idealismus. Hegel, Schelling, Fichte & Co. waren die ersten großen Obskuranten unter den Philosophen – und nicht zufällig war einer von ihnen der „Entdecker“ des „hermeneutischen“ Zugangs: Schleiermacher kann dieses Verdienst für sich verbuchen. (Wobei zugunsten von Letzterwähnten gesagt werden muss, dass sein hermeneutischer Zugang sich vom „Vorverständnis“ eines Heidegger stark unterschied – im positiven Sinn.)In unserer Zeit hat sich das Verhältnis längst umgekehrt: Ein philosophisches Werk ist nur ausnahmsweise von diesem „gebildeteten Laien“ zu verstehen, im Regelfall aber bleibt der an Philosophie Interessierte ratlos zurück. Nun muss man sich auf jedem Gebiet mit einer spezifischen Fachterminologie herumschlagen, sich mit Ausdrücken, Beschreibungen, dem Sprachduktus vertraut machen. Nirgendwo aber pflegen die Begriffe derart ungenau und verwaschen (dies betrifft vor allem den im Gefolge Hegels entstandenen dialektischen Materialismus in all seinen Varianten als auch die von Adorno als „Jargon der Eigentlichkeit“ bezeichnete Sprache der Existenzialisten im Gefolge Heideggers, wobei man sich in diesem Falle Adorno als im Glashaus sitzend vorstellen darf) oder aber ähnlich unzugänglich zu sein (bezogen auf die formalisierenden, sich aus der analytischen Philosophie herleitenden Strömungen, mit Carnap beginnend, von Stegmüller fortgesetzt und bei den wissenschaftstheoretischen Modellierungen endend, das alles aber nur verständlich bei fundierter Kenntnis mengentheoretischer und logischer Begrifflichkeit). Diesbezügliche Ausnahmen wie weite Bereiche des kritischen Rationalismus oder der evolutionären Erkenntnistheorie müssen sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, dass ihren so allgemein verständlich formulierten Gedankengängen etwas Plattes, Seichtes anhafte, anhaften müsse. Denn die große Idee, der sich erhebende Gedankenflug ist ein elitärer und esoterischer, der sich dem geneigten Leser erst nach Jahren ehrfurchtsvollen Studiums erschließt.Seinerzeit konnte Thomas Mann seinem Konsul Buddenbrook noch – eine sicher auch idealisierende – Erleuchtung zuteil werden lassen, indem er ihn mit Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ in einer Gartenlaube Zuflucht suchen und Erkenntnisse für sein prosaisch-ökonomisches Leben gewinnen ließ. Derartiges wäre in unserer Zeit nur noch als Satire plausibel zu machen: Ein Banker, der sich mit Paul Lorenzens „Methodischem Denken“ in sein Loft begibt, der Personalchef, der aus den transzendentalpragmatischen Überlegungen Karl-Otto Apels Rückschlüsse über die Kommunikationskultur seines Unternehmens zieht oder ein Börsenmakler, der sich von seinen charttechnischen Überlegungen mit Stegmüllers „Normativer Theorie des induktiven Räsonierens. Carnap II“ einige Erholung von den Fährlichkeiten des Frankfurter Parketts verspricht. Friedrich Nietzsche und Ernst Mach konnten noch den philosophischen Hintergrund für Musils „Mann ohne Eigenschaften“ abgeben: Welche Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kämmen für eine solche Grundierung in Frage? Wie könnte der Roman aussehen, der sich von Habermas‘ Universalpragmatik inspirieren ließe? Oder von Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“?

Philosophie wird längst nur noch für Philosophen, für akademische Philosophen geschrieben. Man befehdet sich, ohne dass irgendwer außer den Betroffenen davon Kenntnis nehmen würde. In Seminaren herrscht der morbus hermeneuticus (Schnädelbach). Man denkt nicht mehr selbst, sondern interpretiert das, was ein anderer gedacht hat. Bzw. was ein anderer über einen anderen und dessen Gedanken gedacht hat. Usf. Große philosophische Ereignisse sind bestenfalls das Treffen Habermas‘ mit dem damaligen Papst in spe Ratzinger oder aber Sloterdijks weltfremdes Gestammel über die arabische Welt. Man macht ein Foto oder echauffiert sich kurz – und der philosophische Tribut ist entrichtet. Variante 2: Philosophie verkommt zur Ratgeberliteratur, verflacht und verdummt und – verkauft sich. Kalenderweisheiten eines Dr. phil., der mit dem Elaborat durch die Talkshows dingelt und geldgeil grinsend den Titel in die Kamera hält.

Dazwischen findet sich (fast) nichts. Die Kathederphilosophie bemühte sich redlich um höchsten Anspruch, bis sie niemand und sie sich selbst kaum mehr verstand. Sie hat eine, die vielleicht wichtigste, Tugend eines jeden Menschen, der etwas zu sagen wünscht, vergessen: Das Bemühen um Verständlichkeit. Oder auch das Wort Poppers, dass es die Philosophie mit Problemen zu tun habe. Problemen, die außerhalb derselben liegen und die dann gänzlich unfruchtbar werden, wenn sie zu ausschließlich philosophischen Problemen degradiert werden. Und weil man den Elfenbeintum zu verlassen weder den Mut hat noch die Bereitschaft, wird der philosphische Diskurs von Richard David Precht und Pater Anselm Grün bestritten. Bei Beckmann und Markus Lanz.

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