GOETHE FILIUS
PATRI
ANTEVERTENS
OBIIT
ANNOR XL
(Goethe der Sohn, seinem Vater vorangehend, starb 40-jährig.) Noch auf seinem Grabstein auf dem Fremdenfriedhof in Rom bekommt August von Goethe von seinem Vater, der den Grabspruch einmeisseln liess, Salz in die Wunden gerieben. Selbst dort sollte dieser Mann, der als Kind von seinem Vater kaum beachtet wurde (was Johann Wolfgang von Goethe als Erziehungsprinzip ausgab!), für immer im Schatten seines übermächtigen Vaters stehen.
Dabei hätte die Reise von 1830 in Augusts Augen zur Emanzipation von eben diesem Vater beitragen sollen. Hätte – denn: Im Grunde genommen war die ganze Reise fremdbestimmt. Schon die Wahl der Übernachtungsgelegenheiten, unterwegs und in Rom, war – fremdbestimmt. Nicht der Vater allerdings, sondern Staatskanzler von Müllner, ein Freund des Vaters, gab August Übernachtungs-Tipps mit, als dieser sich endlich im April 1830 auf den Weg machen konnte. Fast drei Jahre waren es schon her, dass August von Goethe zum ersten Mal für eine solche Reise Urlaub bei seinem Arbeitgeber, dem Staat Sachsen-Weimar, eingereicht hatte. Die Fremdbestimmung reichte noch weiter: Als Reisebegleiter wurde des Vaters Intimus Eckermann bestimmt. In Genua trennten sich die beiden allerdings. Die Gründe dafür sind bis heute unklar. Konnten die beiden einfach nicht miteinander? Oder war Eckermann tatsächlich zu krank, um weiterreisen zu können? Oder war es letzten Endes doch Augusts Trinkverhalten (er trank schon zum Frühstück Wein), das Eckermann zur Trennung bewog? Eckermann seinerseits wollte eigentlich gar nicht von Weimar weg, und so fällt auf, wenn man Augusts Tagebuch und seine Briefe an den Vater liest, dass die beiden kaum etwas zusammen unternommen haben. Fremdbestimmung: Wo immer es anging, verteilte August von Goethe Schaumedallien mit dem Portrait seines Vaters. Fremdbestimmung: Johann Wolfgang von Goethe war gegen Ende seines Lebens fleissiger Sammler von Schaumünzen des 15. und 16. Jahrhunderts. August grast alle Antiquare ab, um für unsere Sammlung [!] Stücke zu erwerben und stante pede nach Weimar zu senden. Fremdbestimmung: August schreibt regelmässig – und gegen seinen Willen! – Tagebuch, das er ebenso regelmässig seinem Vater schickt.
Eben dieses Tagebuch wurde 1999, zusammen mit den Briefen an den Vater, von Andreas Beyer und Gabriele Radecke bei Hanser herausgegeben. (Es ist seit kurzem auch als Taschenbuch bei dtv erhältlich.) Es sollte also beinahe 170 Jahre dauern, bis es zum ersten Mal in toto erschien. Johann Wolfgang von Goethe hat sich durchaus noch gewünscht (in einem Brief an Zelter), dass es vielleicht Gelegenheit gäbe, in künftigen Tagen aus seinen Reiseblättern das Gedächtnis dieses jungen Mannes Freunden und Wohlwollenden aufzufrischen und zu empfehlen. Offenbar war aber dieser Wunsch bereits zwei Jahre später, nach dem Tod Goethes und Zelters, für die Nachwelt Makulatur.
Dem ’neutralen‘ Leser bleibt die Frage: Was sind diese Reiseblätter wert, wenn man von der Tatsache absieht, dass hier Goethes Sohn geschrieben hat? Goethe jr. schreibt sicher ein besseres, weil der Alltagssprache näheres Deutsch, als sein Vater mittlerweile zu tun pflegte. Personen- und Ortsnamen schreibt er allerdings nach Gehör, und keineswegs immer konsequent gleich. Auch sonst scheint er Legastheniker gewesen zu sein – oder er schrieb unter dem Einfluss von allzu viel Wein. Die Reiseroute entsprach der damals üblichen: Seit der Simplon-Pass auf Anregung Napoléons ausgebaut worden war, reiste ‚man‘ über Frankfurt am Main, dann Lausanne und Brig nach Mailand. Von dort ging es im üblichen Abstecher nach Venedig. (August ging es in Venedig gesundheitlich offenbar besser, wenigstens fühlte er sich so. Im Übrigen aber weiss er offenbar nicht, was er von der Lagunenstadt halten soll: Im selben Brief kann er von ihr und seinem Aufenthalt dort schwärmen und die Stadt wenige Sätze später als langweilig verdammen und sich von dort weg wünschen.) Neapel war so ungefähr der südlichste Punkt der Reise, von da ging es nach Rom. Rom selber konnte August von Goethe kaum noch besichtigen; schon kurz nach seiner Ankunft erwischte ihn ein Fieber und er starb – an Schlagfluss, wie die Diagnose der Ärzte vor Ort lautete.
August von Goethe unternahm die Reise auch aus gesundheitlichen Gründen. Er galt in Weimar als überspannt, und sein Alkoholkonsum hatte bedrohliche Ausmasse angenommen. Seine Ehe mit Ottilie war zerstört. (Nichts ängstigte Ottilie mehr, als die Tatsache, dass August unterwegs an ihren Hochzeitstag dachte und ihr ein Präsent zusammen mit einem sehr weich gestimmten und sich für vergangenes Übles entschuldigenden Brief schickte. Sie wollte mit diesem Mann nicht mehr zusammen sein; und wenn er ihr nun durch sein Verhalten die Möglichkeit für Vorwürfe wegnähme, wäre sie gezwungen gewesen, dies dennoch zu tun.)
Vor allem gegen Ende werden Augusts Texte fahriger. Schon immer spürte man unterschwellig, dass ihm der Besuch all der Museen und Antiquare weniger sagte, als ein Besuch im Zirkus (wo er die Amazonen auf ihren Pferden bewunderte – vor allem, wenn sie im Eifer der Scheingefechte ihren Helm verloren und ihre langen Haare im Wind flatterten – sapienti sat) oder ein Bad in der Menge gewöhnlicher Fischer und ihrer Frauen. Im Theater ging er meist nach dem 1. Akt nach Hause – ausser, es wurde noch eine Ballet-Einlage gegeben, wo er wiederum die Ballerinas anschauen konnte, die Kleidchen bis knapp unters Knie trugen, und wo er dann Stellungen und Waden [!] bewundern durfte. Ein Unfall in La Spezia trug wohl ebenfalls zu einem Wiederanstieg seiner seltsamen Launen bei: Rund einen Monat musste er in einem Verband ausharren, der sein gebrochenes Schlüsselbein fixierte, bevor er endlich weiterreisen durfte. Gegen Ende also werden Augusts Texte ‚genialischer‘ – er zitiert denn schon mal nicht mehr aus seines Vaters klassischen Werken, sondern aus dem Faust.
Daneben ist es Napoléon, der August immer wieder in die Feder fliesst. Sehr gegen die Stimmung der Zeit, war er – dies vielleicht das Originellste an ihm – ein bedingungsloser, wenn auch unreflektierter Anhänger des längst gestürzten und verstorbenen Korsen. Die Julirevolution von 1830 hingegen ging an August vorbei, ohne dass er sie zu bemerken schien.
August von Goethe hatte es nicht leicht in seinem Leben. Sein einziges Werk, das nach seinem Tod erscheint, eben dieser Reisebericht hier, verdient durchaus einige Aufmerksamkeit. Unabhängig von seiner Eigenschaft als Sohn Goethes, kann man in Augusts Berichten feststellen, wie der Fremdenverkehr in Italien zur festen Grösse geworden ist, mit fix definierten Hotels, in denen man absteigt, Sehenswürdigkeiten, die man abzuhaken hat – Trampelpfaden, denen die Herde folgt. Es war Teil von Augusts Schicksal, zu spät zu kommen; es war Teil seines Schicksals, dort, wo sein Vater (und sein Grossvater!) eine Wiedergeburt erlebt hatten, den Tod zu erleiden. Man muss allerdings zugeben, dass August von Goethe, im Gegensatz zu Vater und Grossvater, aus seiner Italien-Reise wohl keinen Gewinn gezogen hätte. Er wäre in Weimar an des Vaters Gängelband geblieben (ein Vater, den er im Stil der Zeit stets mit Sie anredete!), er wäre weiterhin mit Ottilie unglücklich gewesen (ein Unglück, das er allerdings tapfer ertrug – oder wusste er einfach von nichts? Jedenfalls reiste er in Italien eine Zeitlang mit einem jungen Engländer, der in Weimar der Geliebte Ottiliens gewesen war), er wäre weiterhin Opfer seines ungezügelten Temperaments geblieben – bzw. er hätte sich wohl einfach in Weimar zu einem frühen Tod gesoffen.
Sein Reisebericht ist als Reisebericht durchschnittlich. Als Dokument einer aufkommenden Tourismus-Industrie, aber auch der nicht immer so schönen Seiten Weimars und Goethes ist er – wie man so schön sagt – unverzichtbar. Dies auch dank der Abbildungen, kluger Nachwörter, Erläuterungen und Verzeichnisse.
Tragische Italiensehnsucht der Goethe-Familie…
Geistige Heimatstadt „antinational“ Rom:
„O wie fühl ich in Rom mich so froh, gedenk ich der Zeiten,
Da mich ein graulicher Tag hinten im Norden umfing,
Trübe der Himmel und schwer auf meine Scheitel sich senkte…“
Die Heimat des Dichters liegt auf dem Kapitol in Rom und das ersehnte Grab bei der Cestiuspyramide:
»Dichter! Wohin versteigest du dich?« – Vergib mir: der hohe
Kapitolinische Berg ist dir ein zweiter Olymp.
Dulde mich, Jupiter, hier, und Hermes führe mich später
Cestius Mal vorbei, leise zum Orkus hinab…“
GOETHE FILIUS PATRI ANTEVERTENS OBIIT ANNOR XL