Paul Valéry (1871-1945) gilt als der letzte grosse Lyriker Frankreichs. Er konnte – eine Seltenheit bei einem Lyriker! – sein Leben aus seiner schriftstellerischen Arbeit bestreiten, und das nicht einmal schlecht. Den Lyriker müsste man auf jeden Fall in seiner Originalsprache lesen (was ich auf jeden Fall noch vorhabe), hier geht es aber um den Essayisten und Philosophen Valéry. Denn auch dies hat ihn bekannt gemacht. Erst nach Valérys Tod bekannt wurden seine „Cahiers“ – Schulhefte, die Valéry Zeit seines Lebens benutzt und voll geschrieben hat. Jeden Morgen stand Valéry spätestens um 5.00 Uhr auf und widmete sich ein, zwei Stunden seinen „Cahiers“. Er notierte darin Reflexionen über sich, Gott und die Welt. (Das heisst: Zu Gott habe ich in meiner Auswahl nichts gefunden.) Ob die „Cahiers“ je vollständig erschienen sind, ist mir nicht klar. Gelesen habe ich eine kleine Auswahlausgabe:
Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers, auf der Grundlage der von H. Köhler und J. Schmidt-Radefeldt besorgten deutschen Ausgabe der Cahiers/Hefte in sechs Bänden, ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel, Die andere Bibliothek, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2011 – in der Mantelausgabe der Büchergilde. Wie bei der anderen Bibliothek nicht anders zu erwarten, auch eine kleine bibliophile Kostbarkeit.
Die Manie, Hefte und Kladden mit philosophischen Aperçus, Aphorismen, kürzeren und längeren Essays zu füllen, teilt Valéry mit seinem Zeitgenossen Wittgenstein. (Die beiden wussten m.W. allerdings nichts voneinander.) Obwohl wie jeder französische Denker immer wieder mit Déscartes konfrontiert, entpuppt sich Valéry als Konstruktivist – steht also im weitesten Sinne in der Nachfolge Kants. Dabei wehrt sich Valéry allerdings dagegen, dass man ein erkennendes Ich absolut setzt, quasi als Dame ohne Unterleib. Das Individuum erkennt seine Umwelt, indem es sie körperlich erfährt. „Ich baue kein »System« – Mein System – bin ich.“ Oder: „Was wäre das für ein Buch mit dem Titel: Tagebuch meines Körpers!„ Auch mit der Sprache beschäftigte sich Valéry in seinen „Cahiers“ intensiv. Bei seinen diesbezüglichen Reflexionen finden wir so manche, die auch vom späten Wittgenstein stammen könnte, z.B.: „Die Sprache ermöglicht uns, nicht hinschauen zu müssen.“ Oder: „Das wirklich Neue wäre vollständig unausdrückbar.“
Nun stehe ich natürlich vor der Crux jeder Auswahlausgabe. Haben die Herausgeber nun wirklich die besten Einträge aus den „Cahiers“ verwendet oder lohnte es sich allenfalls, die andere (grössere, aber auch immer noch) Auswahl in 6 Bänden anzuschaffen? Oder müsste man allenfalls sogar versuchen, auf die französische Werkausgabe zurückzugreifen? (Nur: Ist die vollständig?) …