Veröffentlicht in der Reihe Texte zur Forschung der WBG. Eingeleitet, herausgegeben und übersetzt von Christos Karvounis.
Die Nennung von Demosthenes als Autor ist eigentlich ein kleiner Etikettenschwindel: Offenbar ist nur die letzte der drei in diesem schmalen Bändchen veröffentlichten Reden von Demosthenes selber. So machen sich grosse rhetorische Qualitätsunterschiede geltend – aber Rhetorik war nicht der Grund, warum ich diese Sammlung gelesen habe. Interessant für mich waren zwei andere Dinge: Einerseits die Art und Weise, wie die Athener ihre Kriegsflotte finanziert haben zu einer Zeit, wo die athenische Marine eine führende Rolle inne hatte. Andererseits der Einblick in die athenische Rechtssprechung.
Beides liefern die drei Texte und die Einführung von Karvounis sehr gut. Für seine hochberühmte und effiziente Flotte verfügte Athen über ein im Grunde genommen sehr interessantes und modern klingendes Finanzierungsmodell. Es funktionierte nämlich rein privatwirtschaftlich, was jeden Liberalen des 21. Jahrhunderts entzücken müsste: Die reichsten Bürger waren im Turnus zum Unterhalt je einer Triere während je eines Jahres verpflichtet. Man könnte sich überlegen, ob die reichsten Bürger eines Landes für jeweils ein Jahr die Kosten für ein Kampfgeschwader der Luftwaffe übernehmen sollten: Mahlzeiten und Unterkunft der Piloten und ihrer Vorgesetzten, Treibstoff der Flugzeuge … So jedenfalls funktionierte die Flotte im alten Athen: Für ein Jahr war ein reicher Athener verpflichtet, die Kosten für die Ausrüstung des Schiffs und Lohn und Essen von Mannschaft und Offizieren zu tragen. Er war sogar verpflichtet, mit an Bord zu sein während dieses seines Dienstjahrs. Das konnte offensichtlich schwerwiegende finanzielle Konsequenzen für den einzelnen mit sich ziehen – nicht nur die Fahrt selber, sondern auch die Tatsache, dass selbst reiche Athener sich für dieses Abenteuer verschulden mussten. Diese Schulden wollten ja abgetragen werden, aber für ein Jahr war der Betreffende nicht in der Lage, Geld zu verdienen, oder nur in vermindertem Mass. Kein Wunder, dass sich so mancher vor diesen Ausgaben zu drücken versuchte – auf die eine oder die andere Art und Weise.
Womit wir dann zum zweiten meiner Interessenspunkte kämen, und dem Grund, warum all diese Reden überhaupt existieren. Schludrige oder gar nicht stattfindende Übergaben von Schiff und Ausrüstung (die Mannschaft hatte jeder selber zusammen zu suchen) führte offenbar immer wieder zu Streit zwischen den Bürgern Athens. Der wurde manchmal handgreiflich in Form von Schlägereien, manchmal vor Gericht, manchmal erst so, dann so, ausgefochten. Um die Richter zu überzeugen, engagierte so mancher Athener einen bekannten Redner, der ihm seine Anklage- oder Verteidungsrede verfasste. (Halten musste sie der Kläger oder Beklagte selber; es gab noch keine Rechtsanwälte, die plädoyierten. So etwas war sogar verboten. Also galt es, den Text auswendig zu lernen.) So sind diese Reden dann auch auf uns gekommen. Nicht auf uns gekommen ist, wer die jeweiligen Rechtsfälle für sich entscheiden konnte.
Einmal mehr hat sich für mich in dieser Lektüre bestätigt, was ich schon lange vermutete: Dass die alten Griechen keineswegs ein so vorbildliches Völkchen waren, wie unsere Lehrer uns das immer glauben liessen. Es waren offenbar viele, sehr viele Streithammel unter ihnen, Leute, die andere Leute gerne übervorteilten, bestehendes Recht beugen oder ignorieren zu können glaubten. Davon, dass man Aussagen von Sklaven vor Gericht nur glaubte, wenn diese zuvor gefoltert worden waren, wollen wir nicht einmal reden.
Nein, die klassische Antike war keine schöne Zeit …