Ulf Schiewe: Die Hure Babylon

Die Verleger und Buchhändler kennen sog. „Genres“, nach denen sie ihr aktuelles Angebot sortieren. Das erleichtert ihnen, und dem potenziellen Käufer wohl auch, sich in der Fülle des Angebots zurecht zu finden. Auch wir hier können uns dieser Buchhändlereinteilung nicht ganz entziehen, so ist z.B. „Science Fiction“, eines unserer häufig verwendeten Schlagwörter, im Grunde genommen so eine Genre-Bezeichnung. Jedes Genre hat im Übrigen seine Liebhaber, die denn auch gewisse Ansprüche an dieses ihr Genre stellen.

Schiewes 2012 erschienenes Die Hure Babylon gehört demnach ins Genre des „Historischen Romans“. Dieses Genre definiert sich so, dass ein Autor des 21. Jahrhunderts eine Geschichte schreibt, deren Handlung um Jahrhunderte in der Zeit zurückgesetzt ist. (Vermutlich – ich habe das allerdings nirgends so festgesetzt gefunden – vermutlich ist es auch so, dass von jener Zeit keine oder zumindest nur noch wenige Augenzeugen mehr existieren dürfen. Wenn ich also heute einen Roman über die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts verfasse, wäre der vermutlich nicht „historisch“, einer über die 20er vermutlich schon.) Auch andere Ansprüche werden vom Publikum an dieses Genre gestellt: Vor allem müssen die historischen Verhältnisse korrekt wiedergegeben werden (es darf also kein römischer Soldat mit einer Armbanduhr am Handgelenk herumstehen wie in Ben Hur). Optional sind ein Personenverzeichnis und/oder eine Karte mit den wichtigsten Handlungsorten bzw. der jeweiligen Reiseroute. (Beides wird aber auch in andern Genres gern gesehen.) Speziell beim historischen Roman ist es dann wieder fast unumgänglich, dass der Autor erklärt, welche Figuren bzw. Ereignisse des Romans nun historisch, welche fiktiv sind.

All dies weist Die Hure Babylon auf. Das Buch weist noch mehr auf: die offenbar als kundenbindend empfundene Tatsache, Folgeband eines Mehrteilers zu sein. Das Buch bildet aktuell den dritten Teil einer Trilogie, von der ich aber vermute, dass sie noch auf weitere Bände ausgeweitet werden wird. Das Potential dazu hat die Story. Erzählt wird nämlich die Geschichte einer Kastellanen-Familie in Südfrankreich, und Familiengeschichten haben den Vorteil, im Grunde genommen nie fertig zu sein, oder erst dann, wenn der letzte Vertreter der Familie gestorben ist. Und das ist bei Der Hure Babylon nicht der Fall. Andeutungen zu den Katharern lassen mich vermuten, dass, nach den Kreuzzügen in den Nahen Osten in diesem Band, die innereuropäischen Kreuzzüge gegen die Ketzer folgen könnten.

Die Story selber ist rasch zusammengefasst. Arnaut, dessen Geliebte eine Fehlgeburt erleidet, sieht das als Fingerzeig Gottes, dass er für ihr ehebrecherisches Verhältnis büssen muss, und er nimmt deshalb das Kreuz. Er erlebt, was wohl damals so viele erleben mussten, dass die Kreuzzüge nur vordergründig und eher bei Bernhard von Clairvaux (der in Europa blieb) als bei den Führern der tatsächlich Ausziehenden religiös motiviert waren, in Tat und Wahrheit aber machtpolitischen und/oder merkantilen Zwecken dienten. So wird der Leser auf eine Reise mitgenommen, in deren Verlauf der Held vom Knaben zum Mann mutiert.

Soweit, so gut. Grobe historische Schnitzer konnte ich keine feststellen. Ausser dem einen, der mir dieses Genre prinzipiell vergällt: Ich sehe spätmittelalterlichen Recken zu. Ich höre und spüre Männer und Frauen des 21. Jahrhunderts. Wohl mischt der Autor okzitanische und andere Sprachbrocken in die direkte Rede seiner Protagonisten und lässt sie mittelalterlich vom „Wanst“ sprechen statt vom „Bauch“, um Authentizität zu erreichen. Schon Karl May kannte und verwendete ja diese Technik. Aber wenn z.B. der Held bei seiner Geliebten liegt, ihren durch die Schwangerschaft leicht gewölbten Bauch betrachtet und ihre durch die einschiessende Milch anschwellenden Brüste – dann ist das definitiv ein Mann des 21. Jahrhunderts. Selbst wenn das Kind als Knabe und gesund zur Welt gekommen wäre – was hätte ein Mann des Mittelalters damit anfangen sollen? Es hätte – falls es der Ehemann anerkannt hätte – ja nur die Linie einer andern Familie fortgesetzt. Falls es der Ehemann nicht anerkannt hätte (und die Chance hierfür war gross, war er doch gar nicht bei seiner Gattin zu jenem Zeitpunkt, hatte sie in Tat und Wahrheit ja noch nie gesehen, da die Ehe nur aus politischen Gründen geschlossen worden war), wäre wohl für beide Teile – Schwängerer wie Geschwängerte – nur das übrig geblieben, was auch Abaelard und Heloisa übrig blieb: der Gang ins Kloster. (Und dass sich Abaelard und Heloisa als Muster unbedingter Liebe bis heute gehalten haben, weist auch darauf hin, dass sie schon zu ihrer Zeit die Ausnahme und nicht die Regel darstellten.) Nun, die Dame erleidet eine Fehlgeburt – was nur schon deshalb unumgänglich war, weil ihr historisches Vorbild kinderlos blieb. Ihr Liebhaber übrigens ist – zumindest in der vorliegenden Form – reine Fiktion.

Ich habe also prinzipielle Mühe mit dem Genre des sog. historischen Romans. Es ist auch einem einigermassen wortgewandten Autor (und das ist Schiewe ohne Zweifel) kaum möglich, den ‚Look‘ und das ‚Feeling‘ einer längst vergangenen Zeit zu erwecken. Insofern wundere ich mich auch jedesmal über mich selber, dass ich ausgerechnet bei diesem Genre regelmässig Ausflüge in die aktuelle literarische Tagesproduktion unternehme…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert